Der Polizist ist dürr und lang. Seine Uniform ist ihm ein wenig zu kurz, an den Knöcheln kann man seine schwarzen Socken und über dem Hosenbund einen schmalen Streifen bloße Haut sehen.
„Mein Beileid.", meint er zur Begrüßung und streckt mir seine Hand hin, die ich geflissentlich ignoriere.
„Ich weiß, es ist schwer, sich noch einmal daran zurückzuerinnern, aber ich hätte einige Fragen zum Fall Karla-Louisa Weber und Jannick Roth-Mayer."
Meine Mam drückt meine Hand tröstend.
„Kommen Sie herein", sagt sie und öffnet die Tür ein Stück weit. Wir setzen uns auf die Couch. Angespanntes Schweigen. Dann der formelle Tonfall des Polizisten: „Fräulein Sommer. Beginnen wir damit, als Herr Fisher Ihnen die schrecklichen Neuigkeiten mitgeteilt hat. Was haben Sie danach gemacht?"
Meine Stimme klingt rau und fühlt sich seltsam ungewohnt an: „Ich rannte zum...", ich räuspere mich, „Ich konnte es nicht glauben, was Niklas mir erzählt hat. Also bin ich zum Unfallort gerannt, so schnell mich meine Beine trugen. Ich musste mich vergewissern, verstehen Sie?"
Meine Hände zittern leicht. Meine Mam ist da, umfasst meine beiden Hände mit den ihren und hält sie beruhigend fest.
„Natürlich.", sagt der Polizist, „Nun fahren wir fort; Was haben Sie vorgefunden, Fräulein Sommer?"
„Ein verschrottetes Auto.", beginne ich. Ich kann mich an alles erinnern. Die Bilder haben sich in mein Gehirn eingebrannt, es ist unmöglich sie zu vergessen. Sie verfolgen mich bis in meine Träume.
„Ich habe ein kaputtes Auto und ein Motorrad vorgefunden. Das Motorrad lag weit vom Auto entfernt im Straßengraben. Und- Und da lag Karlie...", weiter komme ich nicht. Meine Stimme ist schwer von unterdrückten Tränen und der Kloss in meinem Hals droht, mich zu ersticken.
Ich versuche, mich zusammenzureißen und richte mich auf.
„Karla-Louisa war schon tot, als ich ankam. Einige Personen standen um sie herum und weinten, oder waren entsetzt."
Der Helm war ihr vom Kopf geschleudert worden und sie hatte mich mit ihren starren, matten, wundervoll grünen Augen angestarrt. Das Blut aus einer Kopfwunde hatte ihre blonden Haare dunkelrot gefärbt. Sie sah so schrecklich hilflos aus, wie sie da auf dem Boden lag.
„Ich bin zu ihr gerannt." Ihr Körper war noch warm. Sie hatte ein festliches Kleid an, mintgrün, passend zu ihren Schuhen im gleichen Farbton. Nur trug sie nur noch einen Schuh. Der andere war vermutlich auch, wie der Helm, irgendwo in der dunklen Nacht verschwunden.
Ich bin wie in Trance. Das Erzählen fällt mir so leichter. Es ist, als würde ich nur mit mir über diesen schlimmsten aller Abende sprechen, und nicht mit einem wildfremden Menschen, der weder Karlie, noch Jan gekannt hat.
„Ich konnte Jan nirgends finden. Er war weg." Ich habe ihn gesucht, habe Karlie alleine auf dem kalten Teer zurückgelassen. Mir kam es vor wie Stunden, als ich ihn im Straßengraben entdeckte.
„Schließlich habe ich ihn doch gefunden."
Das Schlimmste war, dass ich dachte, ich fände ihn tot auf. Nick hatte mich ja schon darauf vorbereitet. Doch er lebte noch. Gerade so.
„Er war noch nicht tot. Ich verabschiedete mich von ihm und er starb."
Der letzte Satz klang hohl in meinen Ohren und viel zu kurz, um das zu beschreiben, was Jan widerfahren war.
Nach einem langen Schweigen, meldet sich meine Mutter zu Wort: „Ich glaube, das war genug für heute."
Der Polizist nickt und steht auf. Er und meine Mam verlassen das Wohnzimmer und ich bleibe allein und zitternd auf der Couch zurück.
Ich weiß, dass Jan mein verzweifeltes, zusammenhangloses Gebrabbel nicht verstanden hat. Er war halbbewusstlos. Die eine Hälfte seines Gesichts war geschwollen und blutverschmiert. Eine üble Wunde reichte quer über seinen Rumpf, bis hin zu seiner Brust. Blut trat stetig aus. Es ging langsam mit ihm zu Ende. Und ich musste alles tatenlos mitansehen.
Ich zog damals seinen Kopf auf meinen Schoss und streichelte vorsichtig sein blutverklebtes, einstmals seidiges braunes Haar und weinte ununterbrochen. Das Schwerste waren seine rasenden Atemzüge. Ich wusste, jeder hätte der Letzte sein können.
Leute scharten sich um den Straßengraben, von weitem hörte ich die Sirenen von Krankenwagen. Doch es war mir egal. Es gab zu diesem Zeitpunkt nichts außer ihm und mir.
Ich glaube nicht an Gott. Insgeheim fand ich die Vorstellung, dass es eine höhere Macht gibt absurd.
Wenn in den Filmen, die Karlie so gern schaute, die Charaktere verzweifelt Gott um Hilfe anflehten, widerstand mir dies. Es erschien mir lächerlich, dass dieser Gott sie retten könnte.
Aber in diesem Moment betete ich.
Ich würde alles tun, schwor ich Gott, sollte er nur dafür sorgen, dass Jan weiterlebte.
Doch wie auch in den Filmen, oder Büchern half mir Gott nicht.
Mein Herz zerriss es in tausend Fetzen puren Schmerzes, als sich Jans Brust schließlich nicht mehr hob.
Er war weg. Für immer. Eine allumfassende Leere breitete sich in meinem Innersten aus, bis sie mich voll und ganz erfüllte.
Sie ist bis heute nicht voll und ganz gewichen.
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Die Zeit danach
Teen FictionLiebe. Glück. Freude. Trauer. Leidenschaft. Melancholie. Verlassenheit. Hoffnung.... Jedes dieser Gefühle hat es in diese Geschichte geschafft. Zu viel will ich eigentlich nicht verraten. Lest sie selbst und bildet euch ein eigenes Urteil. ******* D...