Danach 25

16 5 2
                                    

Der Geruch von Omas berühmtem Eintopf steigt mir in die Nase und für einen Augenblick fühle ich mich, als würde ich zurück in die Vergangenheit versetzt. Die Zeit, in der sie mir liebevoll mit dem Zipfel ihrer Kochschürze den verschmierten Mund abwischte und mich über den Rand ihrer Halbmondbrille spielerisch maßregelnd musterte.

Leise öffne ich die Tür und setzte mich an den Küchentisch. Meine Großmutter steht am Herd und wiegt ihre breiten Hüften im Takt zu einem Oldie, der aus dem Radio dringt.

Einen Augenblick lang ist alles in Ordnung. Ein normaler Dienstagmittag. Aber dann ist es wieder da. Das eiskalte Gefühl, das sich einen Weg über meinen Rücken bahnt. Wenn alles so wie früher wäre, würde Karlie neben mir sitzen und Witze über Omas Tanzstil reißen. Oma wiederum würde sie mit ihrer Kochkelle bedrohen, was uns alle dermaßen zum Kichern brächte, dass wir rote Köpfe bekämen.

Vielleicht wäre Jan auch da. Er würde die ganze Zeit betonen, welch ein Glück er mit mir habe, weil er doch sehen könne, dass ich auch im Alter noch eine wahre Schönheit wäre. Genau wie meine Oma.

Sie bekäme feuerrote Wangen und würde schamlos mit ihm flirten. Oder sich mit ihren Plätzchen weitere kleine Komplimente erschleichen, die er so liebt. Liebte, korrigiere ich mich sofort.

Ich seufze tief, was Oma dazu bringt, herumzufahren wie eine verschreckte Katze. Bratensoße spritzt auf die weißen Wandschränke. Sie lässt die entstandenen Flecken mit einer flinken Handbewegung schnell verschwinden.

„Süße, ich habe dich gar nicht gehört! Willst du, dass die ganze Küche von oben bis unten braun besprenkelt ist?", meint sie und fasst sich ans Herz.

Ich lächle müde. Omas fröhlicher Gesichtsausdruck fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

„Schätzchen, wir müssen reden. Deine Mutter ist den ganzen Nachmittag weg und hat mich gebeten, dich ein wenig... Auf das Kommende vorzubereiten."

Sie streicht sich ihr silberweißes, zu einem Bob geschnittenes Haar zurück und beäugt mich streng über den Brillenrand hinweg. Dann umschließt sie meine glatten, schneeweißen Hände mit ihren tief sonnengebräunten, mit Runzeln und Altersflecken übersäten Händen. Sie setzt sich direkt mir gegenüber an den Küchentisch.

„Also Folgendes, Kleines.", sie holt tief und ausgiebig Luft und fährt dann mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme fort, „Ich habe von diesem Jungen gehört. Der in der Selbsthilfegruppe. Rebecca, also deine Mam, kommt nicht damit klar, diesbezüglich eine Entscheidung zu treffen. Also habe ich mich darum gekümmert. Ich habe diesen Aaron angerufen. Und wir sind uns einer Meinung, dass du den Jungen kennenlernen sollst.

Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich nicht ordentlich an der Gruppe beteiligst und das ist meiner Meinung nach falsch. Es ist falsch, weil es eine Hilfe ist, dich mit Menschen austauschen zu können, die dich verstehen. Ich- Ich habe Karla-Louisa auch gekannt. Und Jannick. Sie waren gute Menschen und haben es nicht verdient, so jung zu ster...-"

Weiter kommt sie nicht. Ich entwinde ihr meine Hände und mache Anstalten, aufzustehen. Wie kann sie es wagen? Wie kann sie es wagen, in meiner Gegenwart von den beiden in der Vergangenheit zu sprechen? Sie wollte das böse S-Wort sagen. Sterben.

Ich fühle mich hintergangen. Sie hat hinter meinem Rücken mit Aaron gesprochen. Und sie will, dass ich diese Person kennenlerne. Schon beim bloßen Gedanken daran, schwindet der letzte Rest meiner Freude, sie zu sehen.

Doch sie spricht weiter, mit verletztem Blick, jedoch unaufhaltsam. „Wir haben uns überlegt, Aaron und ich, dass es gut wäre, wenn ihr ein Projekt zusammen durchführt. Ein Mädchen aus der Selbsthilfegruppe wird euch schon bald verlassen. Ihr sollt eine Abschiedsfeier vorbereiten. Die Idee ist gut, weil ihr in derselben Situation seid, du und dieser arme Junge."

„Was. Ist. Nur. Los. Mit. Dir?", schreie ich und bin beinahe selbst überrascht über die Heftigkeit, mit der ich jedes Wort betone, „Wie kommst du nur zu diesem Gedanken, Julian und ich wären in der gleichen Situation?! Sein beschissener Vater hat die wichtigsten Menschen in meinem Leben gekillt. Er hat sie ausgelöscht. Ich hasse ihn und ich hasse Aaron und diese verdammte, ungerechte Welt! Ich hasse alles so schrecklich..."

Meine Stimme erstirbt schluchzend und ich weine heiße Tränen. Ich verabscheue dieses brennende Gefühl im Magen, die Wut, die mich Dinge sagen lässt, die ich am liebsten nie in den Mund genommen hätte.

Doch dieses Mal bin ich nicht allein mit meiner Wut. Oma drückt mich fest an sich und streicht mein Haar tröstend.

Sie ist nicht in dieser Schockstarre, in die meine Mam immer verfällt, wenn ich meine Beherrschung verliere. Meine Großmutter hält mich fest, bis ich mich beruhigt habe und führt mich dann still zur Couch im Wohnzimmer. Die Taschentücher hat sie schon ungefragt in der Hand und reicht sie mir ohne ein Wort, das mich noch einmal provozieren könnte

„Liebling, du bist erfüllt vom Zorn. Du kannst nicht klar denken, weil du so unsäglich wütend bist. Es tut mir im Herzen weh, dich so zu sehen. Du musst loslassen, deine Seele befreien. Ansonsten hast du keine Chance, damit klar zu kommen. Ich weiß von was ich rede, also tu' mir bitte den Gefallen, und mach' nur einmal das, was ich dir sage, okay?"

Ich lehne meinen Kopf erschöpft an ihre Schulter und genieße das Streicheln ihrer Hände auf meinem Rücken. Ich werde es tun. Ich werde mit Julian sprechen, mich überwinden, ihn anzublicken. Ich werde meine blöde Seele befreien, und wenn es das Letzte ist, was ich auf diesem verfluchten Planeten mache.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt