Davor 30

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Als das erste Steinchen mein Fenster trifft, schrecke ich dermaßen zusammen, dass ich prompt die Broschüre der Schauspieler-Akademie fallenlasse.

Beinahe getraue ich mich nicht, das Fenster zu öffnen. Ich meine, es ist beinahe ein Uhr nachts, wie ich nach einem kurzen Blick auf den Digitalwecker auf meinem Nachttisch registriere.

In der Erwartung, Karlie in meinem Garten zu entdecken, kneife ich die Augen zu Schlitzen zusammen, um im Dunkel der Nacht etwas erkennen zu können.

Ich falle beinahe aus dem Fenster, als ich Jan inmitten von Sträuchern und Bäumen meines unordentlichen Gartens erblicke.

Einige Augenblicke lang schauen wir uns wortlos an. Und das ist schon etwas, weil er mich die letzten Tage geflissentlich ignoriert hat. Seit unserem Streit, als er das mit der Zusage an der Akademie herausgefunden hat.

Na ja. Ich war mehr oder weniger davon überzeugt gewesen, dass er... mit mir Schluss gemacht hatte.

„Lia ich will, dass du zu dieser Schule gehst, und zwar ohne mich.", das lässt nicht sehr viele Zweifel daran, dass er mich verlassen hatte. Gepaart mit der Gleichgültigkeit die er mir nach dem Streit entgegenbrachte... Ich bin doch nicht blöd.

Also, was macht er dann bitte unter meinem Fenster?

„Kannst du runter kommen?", fragt er nach einer kleinen Ewigkeit.

„Ich weiß nicht, kann ich?", erwidere ich und blicke ihn so kühl an, wie es mir halt möglich ist. Es war mir ziemlich mies zumute. Würde man die Taschentücher zählen, die ich benutzt hatte, käme man vermutlich auf eine Zahl mit mindestens ein paar Nullen dahinter.

„Bitte, Lia.", meint er und das ist so entwaffnend, dass ich einige Male den Kopf schütteln muss, um meine Gedanken zu ordnen. Da ich alleine zu Hause bin, weil Mam und Liam bei Freunden der Familie essen sind, sage ich, wenn auch widerspenstig: „Komm du rauf. Es ist sonst niemand da."

Es dauert nicht lange und ich höre seine Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich ungefragt, sodass ich nicht die Möglichkeit habe, mich gegen ihn zu wappnen.

Ich stehe noch immer am Fenster. Ich klammere mich am Fensterbrett fest, bis meine Finger wehtun.

Langsam schließt er die Tür hinter sich und kommt Schritt um Schritt näher. Ich reiße die Augen auf und drücke ihm die Hand vor die Brust, als er nur noch eine Armeslänge von mir entfernt ist.

„Was soll d-das werden?", stottere ich, obwohl ich ihn am liebsten umarmt hätte. Jan blickt verwundert auf meine Hand und nimmt sie dann ganz sanft in die seine. Er hält den Blick gesenkt.

„Es war ein Fehler. Ich habe mich geirrt. Es war nur... Ich habe mich noch nie so... verloren gefühlt, als ich herausgefunden habe, dass du vielleicht bald nicht mehr hier bist...", er räuspert sich, um seiner Stimme mehr Klang zu verleihen. „Und du dann nicht mehr zu mir gehörst. Und doch wollte ich nicht, dass du dich zwischen mir und der Schule entscheiden musst. Ich wollte nicht, dass du, egal welche Entscheidung du triffst, etwas bereuen würdest."

Ich beiße mir auf die Lippen.

Er hat noch mehr zu sagen. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt, was er von sich gibt.

„Aber ich kann das nicht, verstehst du? So tun als wärst du mir völlig egal.", gesteht er mit brechender Stimme, „Ich liebe dich Lia, ist dir das klar?"

Da schaut er mir endlich in die Augen. Ohne auch nur einen Gedanken an die Folgen meiner Handlung nachzudenken, entziehe ich ihm meine Hand, nur um sein Wangen zu umfassen und ihn zu küssen.

Er zuckt überrascht zusammen und umfasst schließlich mit beiden Armen meine Taille.

Er ist überall. Ich kann an nichts, außer an ihn denken. Er hebt mich auf das Fensterbrett und ist mir näher, als je zuvor.

Der Kuss ist berauschend, besser, als alles je Dagewesene. Als wir uns letztlich voneinander lösen, atmen wir beide schwer.

„Wow. Ich glaube nicht, dass ich das gerade getan habe. Stell dir vor wie Karlie Augen machen würde, wüsste sie davon...", bringe ich mühsam heraus.

Lachend vergräbt er sein Gesicht an meiner Schulter. „Genau deshalb liebe ich dich, Lia. Du bist so wunderbar ehrlich."

Ich ziehe die Brauen hoch. „Was soll das denn heißen?", will ich wissen.

Er antwortet beinahe schon verlegen: „Na ja. Du kannst nicht lügen und sagst meistens, was dir durch den Kopf geht. Ohne vorauszudenken, wie das wirkt. Das ist... erfrischend"

Aha. Ich bin also erfrischend. Was auch immer das bedeuten mag.

Er schaut sich in meinem Zimmer um. „Ich war noch nie hier.", bemerkt er, „Nur in der Küche." Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich erröte.

Ich entdecke die Broschüre, die ich vorhin achtlos auf dem Boden liegen gelassen habe, noch ehe sein Blick darauf fällt.

Er liest sie auf und blättert darin herum. Es ist still. Doch nicht die angenehme Stille, die ansonsten zwischen uns herrscht.

In dieser Stille liegt ein bitterer Geschmack. Unausgesprochene Gefühle und vielleicht auch leichtes Bedauern über den Kuss von Jans Seite. Ich beobachte jede seiner Gesichtsregungen, die jetzt verschlossen sind.

„Es war ein Fehler.", murmelt er und wiederholt so seine Worte, die er zu Beginn seines Kommens gesagt hatte. Nur ist sein Gesicht dieses Mal wutverzerrt. „Ein verdammter Fehler, herzukommen."

Ich schüttle den Kopf. Nicht schon wieder.

Leise springe ich vom Fensterbrett und schnappe mir die Broschüre.

„Bis dahin ist es doch noch fast ein ganzes Jahr", widerspreche ich flehend. „Bitte nicht. Nicht jetzt. Nachdem du..." Ich lasse den Satz in der Luft hängen. Wir wissen beide, von was ich rede.

Du kannst mich jetzt nicht schon wieder verlassen, nachdem du mich geküsst, und ein verfluchtes Liebesgeständnis gemacht hast.

„Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass du es wirklich in Betracht ziehst."

Vier einfache Worte, die meine Welt zusammenstürzen lassen können. Es. Tut. Mir. Leid.

Doch diesmal gebe ich mich nicht geschlagen. „Nein!", rufe ich mit Tränen der Wut in den Augen, „Verdammt noch mal, Jan. Das kannst du nicht tun. Glaubst du allen Ernstes ich schlucke das einfach?"

Jans Augen verengen sich. „Was willst du von mir hören? Dass ich gerne noch ein Jahr mit dir verbringe, während ich weiß, dass es eh nicht für immer ist? Glaubst du, ich lasse dich gerne gehen? Aber wenn ich noch ein ganzes Jahr mit dir zusammen bin... Wird es mich schier umbringen, dich gehen zu lassen. Wenn ich es jetzt beende, ist es für uns beide einfach nur schmerzhaft."

Ich bin so wütend, dass ich mit dem Fuß aufstampfe.

„Es bringt mich jetzt schon fast um, dich zu verlieren.", schreie ich mit krächzender Stimme. „Also, bitte. Ich bitte dich inständig. Geh jetzt nicht."

Doch er geht. Er dreht sich um und verlässt mich. Wiederholt.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt