Davor 12

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„Mam! Wenn du noch ein Wort darüber sagst, werde ich...", ich lasse die Drohung offen, damit sie sich das Schlimmste des Schlimmsten ausmalen kann. Meine Mutter legt den Kopf in den Nacken und lacht schallend.

„Komm schon, Süße. Du bist begabt. Und die Schule vergibt Stipendien. Wir könnten das bezahlen."

Ich hebe warnend den Finger. „Aber ich will nicht weg von hier. Von dir, oder Karlie, oder..."

„Jan.", beendet sie den Satz. Sie hebt die Augenbrauen. „Lia, ich mag den Jungen, aber dass du für ihn deine Zukunft opferst... Das finde ich ganz schön verantwortungslos. Ich habe alles gegeben, damit ich auf die Kunstakademie gehen konnte. Ich will nicht sagen, dass du nun alle Beziehungen kappen sollst, aber... Besser wär's"

Okay, jetzt bin ich sauer. „Ich war mein gesamtes bisheriges Leben verantwortungsvoll. Außerdem ist es nicht so, dass ich meine ganze Zukunft wegwerfe. Ich gehe nur nicht auf die Schauspielerschule."

Außerdem ist sie nun aber auch wirklich nicht der verantwortungsbewussteste Mensch, den ich je das Vergnügen hatte, kennen zu lernen. Meine Mutter kneift den Mund zusammen, während sie sich Zucker in ihren Tee schüttet. Ganze Lastwagenladungen voll, pflegt meine Oma gerne zu sagen.

In diesem Moment klingelt es. Ich bin schon auf den Beinen, bevor meine Mutter überhaupt geschaltet hat. Wie erwartet steht Jan vor meiner Tür. Er streckt mir lächelnd seinen Motorradhelm entgegen. „Bereit für den schlimmsten Tag der Woche? Doppelstunde Mathe, gefolgt von einer Doppelstunde Physik. Welcher Idiot hat sich denn den Mist ausgedacht?"

Grinsend schlüpfe ich in Jacke und Schuhe. Ich stürme in die Küche, drücke meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und packe meine Schultasche.

Während ich eilig versuche, so viele Bücher wie möglich in meine Tasche zu stopfen und gleichzeitig einen Schluck Tee zu ergattern, lacht meine Mam auf und raunt mir dann verschwörerisch zu: „Ein Motorrad... Wenn das meine Mutter wüsste. Nicht, dass sie das alles nicht schon mit mir durchlebt hat. Wenn du dann am anderen Ende der Welt bist, sollte ich dir vielleicht doch eher einen Chauffeur mieten. Motorräder sind so schrecklich... todbringend. Ich glaube, jede Mutter hat eine Phobie gegen diese Maschinen."

Ich schnaufe kurz allarmiert auf, als sie den Kommentar über die Schauspielakademie fallen lässt und schiele unauffällig zur Tür. Hat er nicht gehört, oder?

„In nächster Zeit hast du mich wohl noch am Hals. Keine Sorge, alte Frau, so leicht wirst du mich nicht los!", grinse ich und stolpere aus der Küche, weil ich so schnell weg will.

„Das wird noch ausdiskutiert, junge Dame!", ruft sie mir hinterher. Doch sie lächelt dabei schief, so, dass ich weiß, dass die Sache mehr oder weniger überstanden ist.

Auf Jans fragenden Blick hin winke ich bloß ab. Schlimm genug, dass ich Bauchschmerzen von der Vorstellung bekomme, ihn zu verlassen. Wenn ich ihm jetzt mitteilen würde, dass ich gar nicht gehen werde, würde er sich schuldig und verantwortlich fühlen. So gut kenne ich ihn jetzt mittlerweile.

Auch wenn ich noch immer nicht verstehe, weshalb er genau mich will, weiß ich doch, dass eine seltsame Verbundenheit zwischen uns besteht. Und das würde ich für nichts auf der Welt opfern. Nicht mal für den Traum den ich, seit ich das erste Mal auf der Bühne stand, hege.

Ich setzte mich hinter ihn und lege die Arme um seine Mitte. Der vertraute Geruch von Leder steigt mir in die Nase. Ich schließe die Augen und genieße das Gefühl, dass mich immer überschwemmt, wenn ich ihm so nah bin. Freiheit, Geborgenheit,... Liebe?

Wow, ermahne ich mich. Liebe ist ein Wort, das für mich in Großbuchstaben geschrieben wird. Ich sollte mir also zu hundert Prozent sicher sein, dass ich es auch wirklich fühle, bevor ich solche Aussagen mache. Außerdem scheint mir Jan ehrlich gesagt nicht der Typ, der mir sagen würde, dass er mich liebt. Auch wenn er es tut.

Die übrige Schülerschaft hatte sich größtenteils daran gewöhnt, dass Jan und ich ein Paar sind. Zwar ist noch immer dieses äußerst nervige Getuschel Gang und Gebe, aber ich habe gelernt, es weitgehend an mir abprallen zu lassen. Trotzdem gehen Sätze wie diese nicht spurlos an mir vorbei:

„Er ist mit dieser Streberin zusammen, von der ich immer abschreibe? Hät' ich mich mal lieber im Matheunterricht neben ihn gesetzt und ihn pausenlos belästigt, dann würdet ihr alle jetzt auf unserer Hochzeit tanzen."

Und: „Ja doch! Du meinst Jan Meyer? Klar kenne ich ihn. Aber Lia? Keine Ahnung, noch nie gehört."

Oder schlicht und einfach: „Du meint dieses Mauerblümchen? Der Anhängsel von Karla, der noch nie was von Schminke gehört hat. Na ja, ich dachte, er hätte wenigstens Geschmack. Obwohl; Stille Wasser sind ja bekanntlich tief. Sie muss eine Granate im Bett sein."

In diesem Schulhaus bin ich nicht wirklich eine eigenständige Person. Ich bin Karlies beste Freundin, Nicks Bekannte, oder am Schlimmsten, das wandelnde Mathelösungsbuch. Als dann seit kurzem noch „Jans Freundin" dazukam, kann man es ihnen wohl kaum verübeln, dass sie sich fragen, was an mir so besonders ist. Ich weiß es ja selber kaum.

Ich habe mich selbst noch nicht daran gewöhnt, wenn er einfach meine Hand hält, als wäre es das Normalste der Welt. Ich drücke seine Hand ganz leicht.

Er blickt zu mir herab und lächelt. Und in diesem Moment weiß ich es. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass es Liebe ist. Unwiderruflich und mit jeder Faser meines Körpers bin ich verliebt in diesen Jungen. Auch wenn es das vielleicht Dümmste ist, was mir je passiert ist, ist es zugleich das Beste.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt