Danach 33

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Das, was ich im Begriff bin zu tun, fordert viel Mut und Überwindung meinerseits.

Ich werfe einen Blick auf den zerknitterten Zettel mit Pias verschnörkelter Handschrift und vergewissere mich in der Adresse.

Das Haus sieht überraschend durchschnittlich aus: Gepflegter Vorgarten, weißgelbe Fassade und rotbraune Ziegel. Karierte Vorhänge und säuberliche Blumenkisten, die Geranien beherbergen.

Ich drücke das schmiedeeiserne Gartentor auf und folge dem geraden Kiesweg bis hin zur Eingangstür des Gebäudes.

Einen Moment lang ringe ich mit mir; soll ich wirklich klingeln? Oder besser einfach wieder gehen?

Ich denke an Aarons Geschichte und gebe mir einen Schubs. Ich strecke eine zitternde Hand nach der Klingel aus und zucke zusammen, als ein lautes Glockenschlagen ertönt.

Lange bleibt die Tür geschlossen. Doch ich warte geduldig. Ich kann meine Beine nicht dazu bringen, sich zu bewegen.

Letztlich wird sie doch geöffnet.

Von einer gertenschlanken, blonden, schon in die Jahre gekommenen Dame. Ihre Augen sind auffällig verquollen, als habe sie geweint.

„Ja, bitte?" Ihre Stimme klingt brüchig. Sie besitzt einen Akzent, den ich nicht zuordnen kann.

„I-ist, also, ähm ist Julian da?", erkundige ich mich stotternd.

„Einen Moment Geduld", bittet sie und bedeutet mir, einzutreten.

Entgegen meiner Mam, die einfach durch das Treppenhaus hochbrüllen würde, dass ich Besucht hätte, steigt sie die Stufen der Treppe hoch und unterhält sich leise mit ihrem Sohn.

Dass sie seine Mutter ist, nehme ich anhand des Alters und des Aussehens an.

Ich stehe am Fuß der Treppe, als Julian am oberen Ende auftaucht.

Er sieht genauso geschockt aus, wie ich mich fühle.

„Lia – Ähm... Lianna?"

Er wirkt verlegen.

„Du nennst mich Lia", bestimme ich entschlossen.

Ich halte seine Notizen in der Hand, die mir Pia überbracht hat. Er besitzt eine fein säuberliche Handschrift, auch wenn ich den Verdacht habe, dass er sich viel mehr Mühe beim Schreiben der Notizen gegeben hat, als bei anderen Dingen.

„Ich wollte noch ein paar Dinge mit dir bezüglich Marthas Party besprechen.", sage ich, „Wäre das möglich?"

Julian nickt heftig und stolpert eilig die Treppe hinunter. Er führt mich ins Wohnzimmer des Hauses und deutet auf die Couch. Wir setzen uns.

Ich ergreife die Initiative und beginne: „Ähm, dass mit meinem Ausbruch tut mir leid, Julian. Es war unfair. Du bist nicht schuld an diesem Unfall. Ich denke, ich suche noch immer eine Person, der ich die Verantwortung dafür geben kann. Ich kann nicht anders."

Auf einmal füllen sich meine Augen mit Tränen.

Es so auszusprechen, macht mir bewusst, dass ich genau das getan habe: Ich habe ihm etwas zugeschoben, an dem er unmöglich Schuld tragen kann.

„Du hast meine Absolution. Ich verzeihe dir, obwohl es nichts zu verzeihen gibt. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass dich das erleichtert."

Ich verstumme und sehe geradeaus.

Die Luft entweicht zischend aus Julians Mund. Er hat nicht geatmet.

„Danke", sagt er nach einer halben Ewigkeit, „Vielen, vielen, vielen Dank. Du kannst dir nicht einmal vorstellen, wie viele Vorwürfe ich mir deswegen gemacht habe."

Er nimmt meine Hand in die seine. Es ist sicherlich freundschaftlich gemeint, hat jedoch etwas Intimes an sich, das mich veranlasst, sie zurückzuziehen.

„Ich meine, es ist noch immer nicht ganz gegessen, doch eine große Last ist fort.", flüstert er heiser.

Ich sehe ihm in die dunkelblauen Augen, in denen die Trauer sitzt.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, sage ich betreten: „Außerdem hast auch du Verluste gemacht. Dein Vater ist dabei umgekomm-", ich stoppe rechtzeitig, „Was ich damit sagen will, ist, dass du auch das Recht zur Trauer hast. Auch wenn er den Unfall verursacht hat."

„Danke", wiederholt er und sieht mich dabei so intensiv an, dass ich den Blick abwende.

„Also, ich denke, das mit dem Abendessen ist eine sehr gute Idee", wechsle ich abrupt das Thema.

„Allerdings würde ich es eher als Picknick gestalten. Ich finde, wir sind genug lange in diesem tristen Raum. Außerdem ist der diesjährige Frühling genug warm dafür."

Julian nickt begeistert mit dem Kopf.

„Ja, das würde passen.", doch dann wirft seine Stirn Runzeln, „Aber wo genau soll es stattfinden?"

Ich lächle schwach.

„Ich habe den perfekten Platz", meine ich.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt