XXXIX

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Ich schaffte es drei Tage lang nicht mehr aus dem Bett.
Irgendetwas in mir fehlte die Kraft, aufzustehen und sich dem ganzen Mist zu stellen, der gerade in meiner Welt passierte.
Erst ein Anruf meines Büros brachte mich dazu, mich fertig zu machen, die Schatten unter meinen Augen zu überdecken und mir ein Taxi zum großen Gebäudekomplex zu nehmen, in dem ich nun schon seit einigen Jahren arbeitete.
Dass mein Chef angepisst war als ich bei ihm kündigte war noch milde ausgedrückt.
Aber irgendwie führte mir das ein wenig vor Augen, dass ich wenigstens in meinem Job keine totale Niete war.
Nachdem ich meinen Posten geräumt und die Kanzlei ein für alle mal verkassen hatte, schien alles noch schwerer zu werden.
Jeder Schritt den ich tat brauchte immensen Kraftaufwand, jeder Atemzug fühlte sich falsch an.
Während den nächsten zwei Tagen, in denen ich mein gesamtes Hab und Gut in Kisten verstaute, weinte ich fast Non Stop.
Seit Sebastian durch diese verdammte Tür verschwunden war schien es als hätte sich die Welt aufgehört zu drehen.
Immer wieder überlegte ich, Jules oder Alex anzurufen, doch jedes mal legte ich mein Handy wieder beiseite.
Ich konnte gerade niemandem von dieser Sache erzählen, und schon gar nicht am Telefon.
Also machte ich weiter damit mein Leben buchstäblich zusammenzuräumen, buchte ein Hotelzimmer in London, den dazugehörigen Flug, und warf meine Tabletten weg, die schon seit Ewigkeiten unberührt im Badschrank gestanden hatten.
Wenn ich es nicht schaffte diese Angelegenheit mit mir selbst zu klären würde ich mein Spiegelbild nie wieder anblicken können.
Ein Lastwagen holte meine Sachen irgendwann ab und verstaute sie in einem Container, fürs erste würde ich alles in einem Lagerhaus unterbringen.
Dann war er da, der Tag der Abreise.
Ständig versuchte ich mich selbst davon zu überzeugen, tausend gründe zum bleiben zu haben, aber so gut ich im Lügen auch war, mich selbst belügen konnte ich doch nicht.
Also schlüpfte ich mit zitternden Gliedmaßen in ein paar Jeans und einen weichen Strickpullover, rief mir ein Taxi und knallte die Tür etwas zu laut hinter mir zu.
Auf dem Küchentresen hatte ich Sebastian ein knappe Nachricht ohne liebe Worte Hinterlassen, in der ich ihn über alles Mögliche den Vermieter betreffend aufklärte.
So weit hatte ich es also kommen lassen.
Dass ich mit einer hingekritzelten Nachricht verschwand, wie nach einem schlecht gelaufenen One Night Stand.

"Geht es ihnen gut, Miss?"
Stirnrunzelnd warf der untersetzte Taxifahrer mir einen Blick durch den Rückspiegel zu.
Die Frage war keineswegs weit hergeholt, ich sah aus wie ein verdammtes Gespenst.
Trotzdem nickte ich und zwang mich dazu zu lächeln.
"Hatte eine lange Nacht."
Der Fahrer lachte und startete den Motor.
"Sie jungen Leute immer mit ihrem lange aufbleiben..."
Während der Fahrt zum Flughafen versuchte er noch ein paar mal ein Gespräch mit mir anzufangen, ließ es aber bleiben nachdem ich ihm schon zum dritten mal nicht geantwortet hatte.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, New York im Fenster vorbeiziehen zu sehen und mich selbst vom weinen abzuhalten.
Das erste mal in meinem Leben wünschte ich mir jemanden, der mir sagen konnte was zu tun sei.
Liebe und ungenügend bezahlter Job gegen die Stadt die ich liebte, meine Freunde und das Jobangebot meines Lebens?
So vernünftig das auch klingen mochte, wünschte ich mir trotzdem die Zeit vor dem Streit zurück.
~
Schwerfällig öffnete ich meine geschwollenen Augen.
Sofort schoss ein stechender Schmerz durch meinen Kopf, der mich sofort auf Chaces Sofa zurücksinken ließ.
Es war nicht das erste mal seit dem Streit, dass ich mit einem Mordskater aufwachte.
Egal was ich tat, oder auch Chace in dem Versuch mich abzulenken, irgendwann würde ich immer wie ein Junge, der sich im Einkaufszentrum verlaufen hatte anfangen zu flennen.
Und dann ertränkte ich das ganze in Alkohol, solange es nur kein Vodka war.
Nein, denn der Erinnerte wie eigentlich sonst alles zu sehr an Stas.
Ich hatte sie gehen lassen, einfach so, und noch nicht einmal bemerkt dass es ihr wieder schlechter ging.
Welcher Freund tat so etwas?
Vor allem wenn die Freundin schon früher mit Depressionen zu kämpfen hatte?
Verzweifelt stöhnend rieb ich mir den Kopf.
Es war so gut, wenn nicht sogar perfekt gelaufen zwischen uns.
Davon zeugte auch die kleine Schachtel in meiner Jackentasche, von der Gebrauch zu machen ich eigentlich bald vorgehabt hatte.
Viel zu schnell für meinen geschwächten Kreislauf stand ich auf, schaffte es aber stehen zu bleiben.
Obwohl mir so übel wir noch nie war, schleppte ich mich in das Schlafzimmer meines Freundes und weckte ihn indem ich ihn unsanft an der Schulter schüttelte.
"Was ist denn."
Murmelte Chace unverständlich, den Restalkohol noch genauso im Blut wie ich.
"Ich brauche dein Auto."
"Für was."
Er rieb sich die Stirn und setzte sich auf.
"Ich muss wohin."
"Du willst zu ihr fahren."
Ertappt senkte ich den Kopf.
"Bist du dir sicher dass du dir das antun willst? Ich meine, ihr habt euch ziemlich heftige Sachen an den Kopf geworfen."
"Ich habe ihr ziemlich heftige Sschen an den Kopf geworfen."
Korrigierte ich ihn.
"Gott bist du eine Nervensäge wenn es diese Frau betrifft."
Ich verschränkte die Arme und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
"Ich versteh ja wieso. Aber bitte, jetzt nimm einfach die verdammten Autoschlüssel und lass mich meinen Kater ausschlafen."
Dankend nickte ich ihm zu und verschwand mitsamt seinen Schlüsseln aus der Wohnung.
Meine Hände zitterten.
Was auch immer danach passieren würde, ich musste mich zumindest für die Sachen entschuldigen die ich gesagt hatte. Das rechtfertigte noch lange nicht ihr Verhalten, aber ich konnte nicht damit leben an diesem Streit Schuld zu sein. Irgendwo war ich das doch, oder?
Vor der Wohnungstür hielt ich einen Moment lang inne.
Das einzige, das ich zu wissen brauchte war dass ich Anastasia mehr liebte als alles andere.
Verzweifelt hielt ich mich an der Vorstellung fest, irgendwie einen Weg zu finden bei dem sie nicht wegziehen musste, und drückte die Klingel.
Im innern der Wohnung rührte sich nichts.
Noch einmal klingeln.
Sie konnte gerade nicht weg sein, sie musste doch packen?
Außerdem ging es ihr wahrscheinlich noch mieser als mir, wie ich sie kannte würde sie so nie das Haus freiwillig verlassen.
Nach dem dritten Klingeln ließ ich mich an der Tür hinunter auf die Fußmatte gleiten.
Für eine Weile saß ich einfach so stumpf da, bis ich in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel kramte.
Irgendwo war das ja auch meine Wohnung?
Im Moment, in dem ich die Tür geöffnet hatte, wusste ich dass etwas falsch war.
Die Kommode war weg, alle ihrer Schuhe und Jacken, genau wie die große Schwarz- Weiß Fotografie eines Windhunds die dort gehangen hatte.
Wie ein Irrer begann ich durch die Wohnung zu rennen, mit jedem von jeglichen Spuren Anastasias Existenz befreiten Raum mehr dem Wahnsinn nahe.
Schließlich endete ich in der Küche, noch nicht einmal selbst bemerkend dass ich gerade auf dem besten Wege war mich in eine Panikattacke hineinzusteigern.
Dann fiel mir ein Zettel auf dem Küchentresen ins Auge.
Ohne es wirklich zu wollen packte ich ihn, als könne er mir ein wenig mehr Stabilität garantieren, und begann zu lesen.
Als ich fertig war rutschte mir das Blatt Papier aus den zitternden Händen.
Ich sackte auf dem Boden zusammen.
Sie war weg.
London.
Ohne mich.
Ohne mir überhaupt bescheid zu sagen.
Einfach nur ins leere starrend verlor ich den Überblick über die Zeit, wenn nicht sogar über alles.
Irgendwann gegen Abend rief Chace an, der Momentan der einzige meiner Freunde im Bilde über die ganze Situation war, doch ich drückte ihn Weg.
Ich konnte gerade nicht reden.
Sie hatte, absichtlich oder nicht, das Bild von dem Moment, in dem wir uns das erste mal Ich liebe dich gesagt hatten, hängen gelassen.
Dieses Bild war ihr so unglaublich wichtig gewesen.
Und jetzt hing es da, ein stummes Mahnmal unseres Scheiterns.
Ich schaffte es gerade noch ins Bad bevor ich sämtliche Mageninhalte in die Toilette erbrach.
So fühlte es sich also an einen Menschen zu verlieren.

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