XVI

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Das Taxi hielt vor einer großen, alten Villa im Jugendstil am Rand der Innenstadt. Es war der Weihnachtsabend, den man hierzulande am 24. Dezember feierte, und wir würden mit ihrer Familie zusammen Weihnachten feiern.
Stas hatte beschlossen, dass es besser wäre das Treffen bis zuletzt hinauszuzögern.

„Hier wohnen deine Eltern?"
Fragte ich verblüfft.
Anastasia blickte mich zerstreut an.
„Hier wohnt Irina."
„Irina?"
„Meine Schwester."
Antwortete sie mir monoton.
Wie konnte es sein, dass ich seit Wochen mit ihr zusammen war und noch nicht einmal wusste, dass sie eine Schwester hatte?
Wir liefen die von Blumentöpfen gesäumten Stufen zur Haustür hoch, wo Stas klingelte.
Irgendwo im inneren des Hauses schellte ein altmodischer Glockenton.
Wenige Augenblicke später hörte man Schritte näher kommen, und eine Frau öffnete die Tür, die Stas verblüffend ähnlich sah.

„Hallo Anastasia."
„Hi Irina."
Anastasia wirkte verunsichert.
Sie zog ihre Schwester in eine steife Umarmung und lächelte verkniffen.
Im Hintergrund erschienen ein Mann mittleren Alters und eine weitere Frau.
„Sia!"
Rief sie und umarmte Stas, dabei wirkte sie hundert mal wärmer als Irina.
Eine zweite Schwester?
Stas schüttelte dem Mann im Anzug die Hand, der mittlerweile den Arm um Irina gelegt hatte.
Mir kam es so vor, als hätte ich ihn schon einmal in irgendeiner Zeitschrift gesehen hatte.
Plötzlich polterte jemand die Treppe hinunter und warf sich quietschend in Anastasias Arme.
Es war ein Teenager ,und wenn die beiden Frauen ein paar Ähnlichkeiten mit Stas teilten, war dieses Mädchen eine exakte Kopie von ihr.
Die Anwesenheit des Mädchens lockerte die Stimmung ein wenig.
"Sebastian, das sind Irina und Sophia, meine Schwestern, Phillip, Irinas Mann, und deren Tochter, Lydia."
Irina und Phillip nickten mir zu, Sophia schüttelte mir immerhin die Hand, und Lydia sah aus als müsste sie sich zusammenreißen nicht loszulachen.
Langsam begann ich zu verstehen, warum Stas so nervös war.
Und es sollte noch schlimmer kommen.
"Mamotschka, Papa und Mark sind im Esszimmer."
Sophia klang, als versuche sie eine gute Nachricht zu überbringen.
Unsere kleine Versammlung löste sich auf, um einen großen Flur zum besagten Esszimmer zu durchqueren.
Eine der beiden Flügeltüren stand offen, und aus der Küche gegenüber roch es köstlich.
Wir betraten den Raum, und ein Junger Mann mit einem Kleinkind auf dem Schoß sprang auf um Sophia das Kind in die Hand zu drücken und Stas zu begrüßen.
Ein alter Mann mit funkelnden blauen Augen, denen von Irina und Sophia, stand auf und lächelte Ängstlich, als machte ihm die Begegnung mit Anastasia ebenso viel Angst wie ihr.
Sie küsste ihn auf die Wange, ohne aber viele Emotionen zu zeigen.
Sein Lächeln wurde breiter, als er mich sah.
Etwas zu enthusiastisch schüttelte er mir die Hand und stellte sich mir in perfektem British English als Anastasias Vater vor.
Die letzte Person im Raum, die ich nun noch nicht kannte, war die, die noch am Tisch saß.
Sie hatte graue Haare, doch einige wenige Strähnen zeigten noch das Goldblond, das ich an Stas so liebte. Zweifellos mochte sie einmal schön gewesen sein und in ihren dunklen, fast schwarzen Augen hatte bestimmt einmal das selbe Feuer gelodert wie in Anastasias, doch jetzt waren ihre Züge kalt und hart.
Sie stand einen Moment lang auf, nickte Stas kaum merklich zu und Musterte mich kritisch.
Sie fragte irgendetwas auf Russisch und Anastasia antwortete ihr, dabei fiel mein Name.
Wie um irgendetwas zu unterstreichen griff sie nach meiner Hand.
In der Zwischenzeit war das Essen aufgetragen worden und wir setzten uns alle.
Zögerliche Unterhaltungen begannen, bei denen jeder versuchte so wenig persönliches nur möglich preiszugeben.
Ich versuchte, Stas Familie zu mustern.
Je länger ich ihre beiden Schwestern sah, desto mehr bemerkte ich, dass sie mehr Unterschiede hatten als Ähnlichkeiten teilten.
Die Art zu sprechen, zu lachen, sich zu bewegen, keine, weder Sophia oder Irina erinnerten in diesen Dingen an Stas.
Sie hatten beide blaue Augen und dunklere Haare, und schienen mehr nach dem Vater zu kommen, der sich schüchtern versuchte in die Gespräche einzubringen.
Lydia gab hin und wieder sarkastische Kommentare ab, widmete sich ihrem Essen und schien sich prächtig zu amüsieren.
Dabei schien sie die einzige zu sein, die richtige Konversation mit Stas betrieb.
Wäre sie etwas älter gewesen, hätte sie locker als Stas Zwillingsschwester durchgehen können, wäre sie etwas jünger gewesen locker als ihre Tochter.
Durch vorsichtige Fragen versuchte ich zu ermitteln, wie das Leben von Anastasias beiden Schwestern so aussah, und keine von beiden schien wirklich überrascht zu sein dass ich noch nichts von ihnen wusste.
Ich kannte zwar nicht wirklich viele Familien, aber das war bestimmt nicht wie ein normales miteinander aussehen sollte.
Ich fand heraus, dass Irina ihr Studium nach Lydias Geburt abgebrochen hatte und ihr Mann ein großer Hotelier war, dass Sophia ihre Jugendliebe Phillip geheiratet hatte, dass dieser eine eigene Firma besaß, in der sie etwas mitarbeitete.
Die Stimmung wurde zunehmend lockerer, bis Anastasias Mutter plötzlich den Mund aufmachte.
Sie sprach direkt Stas an, schon wieder auf Russisch.
Und da behauptete man Flüstern wäre unhöflich.
Der Name Alex fiel und Stas Miene verhärtete sich.
Sie antwortete in rasantem Russisch, und dieses mal fiel wieder mein Name.
Es war still geworden am Tisch, selbst das Kleinkind hatte aufgehört zu brabbeln, und alle verfolgten die Konversation gespannt, ihre Blicke flogen zwischen Mutter und Tochter hin und her.
Stas sah immer wütender und ihre Schwestern immer erschrockener aus, die beiden sahen ihre Mutter vorwurfsvoll an.
Immerhin war ich nicht der einzige am Tisch, der Russisch verstand.
Plötzlich warf Stas ihre Serviette auf den Tisch, sprang auf, stapelte ein paar Teller aufeinander und verschwand mit diesen in die Küche.
Ihre Mutter sah irgendwie zufrieden mit sich aus.
"War das wirklich nötig?"
Schnarrte Lydia.
Ich wusste zwar nicht worüber geredet geworden war, dafür wusste ich aber umso besser dass meine Freundin gerade wutentbrannt wie selten aus dem Raum gestürmt war.
Ich erhob mich mit einem 'entschuldigt mich bitte' und lief in die Küche, wohin ich glaubte dass Stas verschwunden war.
Sie hatte sich mit einer Hand über dem Waschbecken abgestützt und presste sich die andere Hand auf den Mund.
Ihre Augen glänzten verdächtig.
"Gib mir n paar Minuten."
Sie schien wohl nicht bemerkt zu haben, dass ich es war der den Raum betreten hatte.
Leise schloss ich die Tür hinter mir und trat zu Stas an die Spüle.
"Du bist's."
Sie sackte in sich zusammen.
"Was ist da drinnen passiert?"
"Das selbe wie immer."
Sie holte zittrig Luft und wischte sich über die Augen.
Gerade sah es so aus, als hätte sie es geschafft die Tränen zu stoppen.
"Sie hat mir Vorwürfe gemacht und niemand hat etwas gesagt."
Sie begann zu schluchzen.
Erschrocken drückte ich sie an mich, was sie zum Glück zuließ.
"Erzähl mir was los ist."
Sie nickte heftig und drückte ihr Gesicht in meinen Pullover.
Wir setzten uns auf den Küchenboden, sie lehnte sich an mich und begann zu erzählen.

Jetzt wisst ihr schon mal teilweise warum Stas so Angst hat zu ihrer Familie zu fahren. War das Kapitel zu übertrieben? Es kommt nämlich wahrscheinlich noch mehr.
Gruß,
Vicy

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