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Eigentlich hatte ich geplant, meine ersten sechs Wochen in London dafür zu nutzen, eine Wohnung zu suchen und insgesamt alles ein wenig auf Vordermann zu bringen.
Eigentlich.
Denn genau wie noch in New York schaffte ich es nicht aus dem Bett, geschweige denn aus dem Hotelzimmer.
Der Versuch, den Schmerz in meiner Brust zu ignorieren ließ keine Energie für banale Dinge wie Bewegung oder gesunde Ernährung übrig.
Die einzige Abwechslung war das Zimmermädchen, das Tag für Tag an meine Tür klopfte und es nicht in ihren Kopf hineinzubekommen schien dass ich keinen Zimmerservice brauchte.
Ich machte weder Fort- noch Rückschritte, verschanzte mich einfach in meinem Kokon aus Selbstmitleid.
Mein Handy lag einsam und verwaist auf dem Schreibtisch, schon seit Tagen auf lautlos gestellt und höchstwahrscheinlich leer.
Weder Jules noch Alex wussten dass ich nicht mehr in New York wohnte, doch das war mir egal.
Selbst sie würden mir gerade nicht helfen können.
Mein Leben lag in Scherben vor mir, und ich konnte den Superkleber nicht finden.
Dass Fortuna einem keine Siegshymne spielte oder mit Glitzer bewarf wusste ich spätestens seit bei meinen Antidepressiva das erste mal Nebenwirkungen aufgetreten waren, doch schon wieder am Boden angekommen zu sein tat weh.
Ich konnte doch nicht wieder und wieder von vorne anfangen?
Schnaufend stieg ich aus dem Bett.
Wo war mein verdammter Stolz geblieben?
Bevor ich es mir anders überlegen konnte schlüpfte ich in einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Jeans und zweifarbige Slingbacks, entwirrte meine Haare und brachte mein verquollenes Gesicht halbwegs in Ordnung.
Meinen Pyjama endlich hinter mir gelassen zu haben fühlte sich wie eine winzig kleine Veränderung an.
Einen Schritt nach dem anderen.
Zitternd schlüpfte ich in meinen Mantel und verließ das Kettenhotel in der Innenstadt.
Ich begann ziellos durch die Straßen zu wandern und stand irgendwann vor einer kleinen Bar in der Gegend um Covent Garden.
Unbewusst hatten mich meine Füße an einen Ort gebracht, der sich im gegensatz zum karg eingerichteten Hotelzimmer ein wenig vertraut anfühlte.
Früher war das so etwas wie unsere Stammkneipe gewesen, der Besitzer hatte sogar meinen Namen gekannt.
Jules hatte ihren eigenen Drink gehabt.
Unschlüssig blieb ich vor dem Eingang stehen und starrte das Ladenschild an als könnte es mir irgendwas lebenswichtiges mitteilen.
Plötzlich tippte mir irgendjemand auf die Schulter.
"Anastasia?"
Einen Moment lang dachte ich es wäre Sebastian.
Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum.
Natürlich waren es nicht seine atemberaubenden blauen Augen in die ich nun blickte.
Verwirrt runzelte ich die Stirn.
Irgendwoher kannte ich diesen Kerl, es wollte mir jedoch nicht so recht einfallen.
Er lachte und hielt mir seine Hand hin.
"Jonathan Davis, wir haben zusammen studiert."
Natürlich kannte ich diesen Kerl.
Er war einer der einzigen in meinem Jahrgang gewesen, die mich nicht wegen meinem Namen oder meiner Herkunft schräg angeblickt hatten.
Ich lachte gekünstelt und schüttelte seine immer noch ausgestreckte Hand.
"Tut mir leid, ich habe grade einiges um die Ohren."
Er nickte verständnisvoll.
"Schon in Ordnung. Wolltest du gerade reingehen? Ich meine, wir können auch draußen stehen bleiben."
Einen Moment lang zögerte ich und dachte darüber nach seine unausgesprochene Einladung auszuschlagen.
Doch in welcher Form auch immer, ich konnte wirklich ein wenig Ablenkung gebrauchen. Ohne groß weiter nachzudenken setzte ich mein charmantestes Lächeln auf.
"Ich hatte eigentlich vor mir eine Erkältung zu holen."
Er erwiderte mein Lächeln und hielt mir die Tür auf.
Wahrlich ein Gentleman.

"Ich habe von deinem Wechsel gelesen. Hat ganz schön für Aufsehen gesorgt."
Mein Glas hin und her drehend sah ich dem Whiskey dabei zu wie er das Licht einfing und mit jeder Bewegung eine andere Färbung annahm.
Ich zuckte mit den Schultern und blickte auf.
"New York war einfach nichts mehr für mich."
Jonathan nickte.
"Wie heißt er?"
"Wer?"
"Dein Grund die Stadt zu verlassen."
Ich holte tief Luft.
"Sebastian. Deiner?"
"Du meinst zurück nach London zu kommen?"
Er lehnte sich zurück und atmete genau wie ich zuvor tief durch.
"Jeds."
"Also dann."
Ich hob mein Glas.
"Auf... Gründe."
Ich war definitiv schon angetrunken als ich diesen Trinkspruch von mir gegeben hatte, und bald shcaffte es der Alkohol tatsächlich den ganzen Schmerz der letzten Wochen zu betäuben.
Mit sich drehendem Kopf stolperten wir gegen Mitternacht auf die Straße und wenige Minuten später in mein Hotelzimmer.
Für eine Nacht fühlten sich zwei gebrochene Herzen zusammen schlagend ganz an.

Am nächsten Morgen dröhnte mein Kopf heftig wie selten zuvor.
Auch Jonathan neben mir regte sich.
"Morgen." Brummte er und klang dabei um einiges wacher als ich mich fühlte.
Jetzt, wo ich wieder nüchtern war, erschien mir letzte Nacht wie ein einziger gigantischer Fehler.
Außerdem brauchte ich unbedingt eine Aspirin.
"Hi."
Erwiderte ich seinen Gruß trotz meines Unbehagens.
Ich hüllte mich in die Bettdecke und lehnte mich aus dem Bett, nach meiner Unterwäsche angelnd.
Hinter mir räusperte sich mein ehemaliger Studienkollege.
"Ich- Ich weiß dass gestern Nacht nicht unbedingt das ideale Wiedersehen war, aber... Gott."
Er fuhr sich durch die Haare.
Endlich wieder wenigstens ein bisschen bekleidet drehte ich mich um und wusste nicht ganz wie ich mich verhalten sollte.
"Stehst du immer noch so auf belgische Schokolade? Ich kenne eine kleine Chocolaterie in der Nähe, dort gibt es auch Frühstück..."
Ich wollte ja sagen.
Wirklich.
Er war ein netter Kerl.
Doch dieses Loch in meiner Brust war wieder da, und alles woran ich denken konnte wenn ich Jonathan anblickte war Sebastians Gesicht kurz bevor er die Wohnung verlassen hatte.
"Es tut mir wirklich leid, aber ich kann nicht. Ich-"
"Nein, schon in Ordnung. Ich glaube ich weiß einigermaßen wie du dich fühlst, aber ich hatte schon ein bisschen Zeit darüber hinwegzukommen."
Darüber hinwegkommen.
Daran hatte ich bis jetzt noch nicht gedacht.
Konnte ich das überhaupt?
Das erste mal seit meinem Umzug fühlte ich mich dazu im Stande einen klaren Gedanken zu fassen.
"Danke."
Ich lächelte vorsichtig.
"Aber könntest du dann jetzt bitte... Ich muss..."
"Bin schon am gehen."
Diskret drehte ich mich um, sodass er wieder in seine Kleidung schlüpfen konnte.
"Wenn du jemanden zum reden brauchst..."
"Bitte. Geh einfach."
Er nickte und sah mich mit zusammengekniffenen Lippen an, jedoch ohne eine Spur von Wut.
Bevor er jedoch das Hotelzimmer verließ hielt er noch einen Moment lang inne und drehte sich um.

"Ich weiß nicht was passiert ist. Aber du bist zu wertvoll um daran kaputt zu gehen."

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