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Ich habe wirre Träume, ich sitze in der Schule und starre einen Chemietest an, ohne die geringste Ahnung was das alles bedeutet. Dann stehe ich plötzlich auf einer großen Wiese und habe das Bedürfnis die Blumen zu pflücken. Plötzlich wird alles dunkel, meine Füße scheinen auf der Wiese festzukleben und eine dickliche, schwarze Masse kommt auf mich zu.

Panisch schrecke ich hoch und stelle fest, das ich wohlbehalten in meinem Bett liege. Mein Wecker zeigt an das es 9.12 Uhr ist. Auf dem nachtkästchen liegt mein Handy, zögernd nehme ich es in die Hand. Seit ich vor fast zwei Tagen meine Diagnose bekommen habe, habe ich mein Handy nicht mehr angefasst. Was denken wohl meine Freunde?
Machen sie sich Sorgen um mich?
Ich wiege das Handy in der Hand und lege es dann auf das Kästchen zurück.
Ich bin nicht bereit, jemand Außenstehendem von meiner Krankheit zu erzählen.
Ich habe Angst vor der Reaktion.
Was ist wenn man mich fallen lässt?
Vielleicht aus Angst oder einfach aus Unsicherheit.

Wie würde ich reagieren wenn ich erfahren würde, das meine Freundin bald sterben wird?
Meine Fäuste ballen sich.
Wieso kann ich nicht einfach normal sein?
Wieso kann ich nicht aufwachen und das erste was mich interessiert, sind meine Haare?
Wieso muss ich aufwachen und mir über solche Dinge Gedanken machen?

Wieso ausgerechnet ich? Was habe ich getan um so ein Schicksal zu verdienen?

Diese Frage stelle ich mir immer und immer wieder. Die Tatsache das ich keine Antwort weis, macht mich wahnsinnig.

Was würde ich jetzt tun wenn ich kein Krebs hätte? Ich säße vermutlich in der Schule in einer langweiligen Mathestunde und würde mich fragen, wofür ich jemals das Volumen oder den Umfang eines Kreises berechnen müsste. Ein bitteres lachen entweicht mir.
Was würde ich nicht jetzt dafür geben in dieser Mathestunde zu sitzen, anstatt zu wissen das ich sterben werde.

Normalität? Ist es das was ich mir zurückwünsche? Ein ganz normales Leben, mit den ganz normalen, alltäglichen Problemen.
Schätzen wir dieses Leben vielleicht gar nicht genug?
Was sind schon Probleme wie vergessene Hausaufgaben oder ein gebrochenes Herz im Gegensatz zu den Dingen die in diesem Krankenhaus geschehen?
Vergessene Hausaufgaben verursachen im schlimmsten Fall eine Strafarbeit und ein gebrochenes Herz tut ein paar Monate weh, aber dann? Dann ist alles wieder normal!

Wenn ich die Wahl hätte, entweder ich wüste das ich sterben werde oder ich weiß es nicht. Für was würde ich mich entscheiden?
Wenn man es nicht weiß, dann geht das Leben ganz normal weiter.
Aber wenn man es weiß, dann kann man einerseits all die Dinge tun die man schon immer tun wollte, aber andererseits macht man sich die ganze Zeit Gedanken darüber.

Ich glaube ich würde mich dafür entscheiden es nicht zu wissen.

Habe ich wirklich das Recht mich so zu fühlen?
Ich meine es sterben täglich Kinder an Unterernährung, Krankheit oder wegen Misshandlungen. Wenn ich in meinem Leben noch etwas besonderes vollbringen möchte, möchte ich das es etwas ist was auch anderen Menschen nützt? Möchte ich das andere Menschen mich oder besser gesagt meine Geschichte kennenlernen?
Die Antwort darauf ist nicht einfach.
Ich habe nicht das Recht mich als etwas besonderes darzustellen, denn wie gesagt täglich sterben tausende Menschen, darunter auch Kinder, die einfach so vergessen werden, niemand interessiert es.
Aber ich will auch das mit den Thema Krebs besser umgegangen wird. Es sollte öfter darüber geredet werden.

Wieso redet man eigentlich so wenig über solche Themen?
Ist es weil man es nicht wahrhaben will? Wenn man über etwas schweigt und nicht darüber nachdenkt, ist es dann einfacher normal zu leben?
Wenn man mit so vielen Dingen konfrontiert wird, kann man dann überhaupt noch normal leben? Hat man vielleicht sogar Schuldgefühle, das es einem gut geht, während andere hungern oder von einer Krankheit besiegt in einem Bett liegen?
Ist es vielleicht einfach nur fair, das über solche Themas die mit Krankheit und Tod zu tun haben, so wenig gesprochen wird?

Und dann fällt mir ein weiterer Grund ein weshalb ich eigentlich keine andere Wahl habe, als die Chemo zu machen.

Was passiert wenn ich sterbe?
Ich bin dann Tod!
Aber meine Familie, all die die mich lieben, sie müssen damit klarkommen.

Kann ich wirklich aufgeben, einfach so?
Nein, kann ich nicht und werde ich auch nicht.

Die Chemotherapie.
In zwei Tagen ist es soweit.
Ich spüre Panik in mir hochkochen und versuche sie zu erdrücken. Ich darf nicht zulassen, das ich ausraste. Nicht jetzt, nicht hier.

Was der Junge von gestern wohl für ein Krebs hat? Da er keine Haare mehr hat, gehe ich davon aus das er schon mindestens drei Chemos hinter sich hat. Obwohl bei jedem fallen die Haare unterschiedlich schnell heraus.
Wie groß sind die Chancen des Jungen zu überleben?

Und wieso frage ich mich wie es ihm geht oder was er hat?
Ist es einfach weil ich mich ablenken will, oder steckt da mehr dahinter?

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