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Nachdem ich meine Gedanken einigermaßen sortiert habe und mir sicher bin, dass ich bei Seths Anblick nicht in Tränen ausbreche, mache ich mich auf den Weg ins Krankenhaus.

Diesesmal ist er alleine und liegt schlafend in dem schmalen Bett. Leise setze ich mich neben ihn auf einen Stuhl und streiche leicht über seine Hand.
Als sich die Tür öffnet, zucke ich zusammen und erstarre als ich Herr Mühr sehe. Er verzieht keine Miene und auch ich beschließe alles was zwischen uns geschehen ist zu vergessen.
"Kannst du ihn aufwecken? Ich möchte ihm zeigen wie er mit seiner Prothese umgehen kann."
Ich nicke und warte bis der Arzt das Zimmer wieder verlassen hat, dann lege ich eine kalte Hand an Seths Wange und streiche sachte darüber, während ich gleichzeitig laut seinen Namen sage.
Er öffnet seine Augen und beginnt augenblicklich zu lächeln, als er mich sieht.
"Mo." Ich lächele und drücke seine Hand. Er schmiegt seine Wange an meine eiskalte Hand und diese kleine Geste bedeutet mir unglaublich viel.
"Der Arzt kommt gleich. Wir sollen laufen üben!" Ich versuche mehr Zuversicht auszustrahlen als ich habe und es scheint zu klappen. Seth nickt und grinst dann. "Ich bin bereit."

Als der Arzt wieder das Zimmer betritt mustert er uns kurz und wirft mir dann einen seltsamen Blick zu.
"Also setzte dich erst mal auf!" Seth nickt und hieft sich hoch. Ich halte immer noch seine Hand.
"Also. Ich habe dir ja bereits erklärt wie deine Prothese aufgebaut ist und in der Theorie weißt du auch schon wie du es anziehst richtig?" Seth nickt und ich lächele ihn aufmunternd an: "Zeig es mir." Mein Freund nimmt dem Arzt die Prothese aus der Hand, atmet tief durch und lässt dann meine Hand los. Ich konzentriere mich nicht auf seine  Hände, sondern beobachte sein Gesichtsausdruck.
Konzentration, Entschlossenheit  aber auch Trauer spiegelt sich in ihnen.

"Gut so?" Seine Stimme reißt mich zurück in die Gegenwart, aber als ich hochschaue merke ich das auch Doktor Mühr nicht ganz bei der Sache zu sein scheint. Ich bin mir fast sicher, dass sein Blick gerade eben noch an mir gehaftet hat.
Er beugt sich vor und mustert die Prothese die jetzt an Seths beim befestigt ist.
"Ja so ist das gut. Traust du dir auch schon zu aufzustehen?"
Seth schaut mich an und ich lächele aufmunternd. Er nickt steht mit Doktor Mührs Hilfe auf. Ich beobachte die beiden, wie sie erste wackelige Schritte gehen.

Wir lernen beide neu zu leben.
Seth lernt mit einer Prothese zu leben.
Ich lerne mit einem Wissen zu leben  das so viel wiegt das ich immer wieder einknicke und hinfalle. Aber das spielt keine Rolle, ich muss wieder aufstehen oder die Hände nehmen die man mir entgegenstreckt.
Und ich bin mir sicher das auch Seth lernt damit zu leben, mit meiner und mit seiner Bürde, er ist stark. Er muss stark sein.

Als der Arzt gegangen ist setzt sich Seth erschöpft aber mit leuchtenden Augen neben mich auf das Bett.
Ich lächele sanft: "Und kann man damit leben?" Er nickt und lehnt sich an die Wand, unsere Blicke ruhen beide auf seinem neuen Bein.
"Ich gewöhn mich daran!" Langsam hebe ich den Kopf und schaue ihn an. Ich lasse meinen Blick über seine Gesichtszüge schweifen und bin so vertieft damit, dass ich nicht registrieren das sich die Zimmertür geöffnet hat.
"Hallo Seth, Mo." Ich reiße mich von ihm los und schaue wer das Zimmer betreten hat.
Die ältere Krankenschwester mit den scbwarzen zu einem strengen Dutt gebundenen Haaren die mich über meine Augen aufgeklärt hat, steht mit einem kleinen Silbertablett voller Spritzen und Zangen vor uns.
Seth zuckt mit keiner Wimper, als sie ihm die Spritze in die Armbeuge jagt, während ich dem Blick abwende.
"Das wars schon." Sie lächelt uns an und geht aus dem Zimmer. Ich fahre sanft mit dem Finger über das Pflaster das sie über das Einstichloch der Spritze geklebt hat. Dann fahre ich damit fort ihn anzustarren und diesesmal wandert mein Blick auch über seinen Obrkörper der nur von dem dünnen Kittel bedeckt ist.
"Wenn du mich weiter so anstarrst, dann lass ich es dich machen!" Ich runzele die Stirn und schaue ihn an, seine grünen Augen funkeln schalkhaft.
"Was lässt du mich machen?" Er zieht mich auf seinen Schoß und ich verschränke instinktiv die Arme in seinem Nacken. Er beugt sich vor und flüstert mir etwas ins Ohr was mich ersten lässt.
"Dann lass ich zu das du mich ausziehst! Das hast du gerade mit deinen Blicken schon getan!" Ich erstarre und mein Herz beginnt zu rasen. Fast hatte ich seine Wirkung auf mich vergessen. Bevor ich wiedersprechen kann, beginnt er sanfte Küsse auf meinem Hals zu verteilen.
"Wiedersprich mir nicht, ich weiß das ich recht habe." Seine Stimme ist rau und seine Hände liegen ruhig auf  meiner Hüfte. Als er mir leicht in den Hals beißt, keuche ich erschrocken auf und seine Hände verstärken den Druck auf meiner Hüfte. In meinem Magen beginnt es zu kribbeln und ich will nicht das er aufhört. Seine Lippen wandern meinen Hals über meinen Kiefer und treffen anschließend unglaublich sanft auf meine Lippen. Ich fahre seinen Rücken entlang während ich den Kuss erwiedere. Der Moment ist perfekt, solange bis ich spüre das mir schlecht wird. Ich reiße mich von ihm los und falle aus dem Bett. Ich schaffe es nicht mich zurückzuhalten und verteile meinen gesamten Mageninhalt auf dem Boden, während ich gleichzeitig schmerzhaft auf dem Boden lande. Alles dreht sich und ich keuche laut.
Der Brechreiz ist so schnell verschwunden wie er gekommen ist, allerdings fühlt es sich jetzt so an als würde man meinen Kopf in Feuer  halten.
Ich wimmere leise und will mich aufrichten, rutsche aber aus und liege mit dem Gesicht in meinem eigenen Erbrochenen. Ich merke  verschwommen, dass Seth versucht mich hochzuziehen, aber ich bin zu schwer.
Dann packen mich starke Arme, ich liege auf etwas harten und höre Stimmen, sie sind zu undeutlich zu verstehen, aber ich höre sie.
Grelles Licht blendet mich, meine Kopfschmerzen werden noch schlimmer, dann hören sie so plötzlich auf als hätte man einen Schalter umgelegt. Langsam bekomme ich die Kontrolle über meinen Körper zurück und meine Sicht klärt sich.
Die Krankenschwester kniet neben mir und mustert mich ernst.
"Mein armes Kind." Ich erwiedere ihren Blick, als ihr klar wird das ich das gehört habe lächelt sie kurz verlegen.
"Gehen wir duschen?" Ich nicke und lasse mir hochhelfen. Alles dreht sich und ich klammere mich an ihr fest.
Wir brauchen für die zwanzig Meter fast vier Minuten. Mir ist schwindelig und ich lasse zu das sie mich auszieht und unter die Dusche stellt, nachdem sie mich abgetrocknet und mir eine weite Stoffhose und eine ebenso großes T-shirt übergezogen hat, führt sie mich in ein Behandlungszimmer und trägt mir auf kurz zu warten.

Ich kann an nichts denken, ich empfinde nicht einmal mehr Ekel.
Es ist als wären mit den Kopfschmerzen alle Gefühle verschwunden.
Was war das gerade?
Doktor Mühr setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl.
"Das gerade ist für jemanden mit deiner Diagnose normal. Kurze Kontrollverluste, verbunden mit einer Ohnmacht oder heftigen schmerzen.
"Aber ich war nicht ohnmächtig." Er nickt und notiert sich etwas auf einem Klemmbrett.
"Häufig wird so etwas durch starke Gefühlsregungen ausgelöst. Auch eine Ohnmacht ist nicht immer zwingend, es kann auch eine halb Ohnmacht sein. Man ist halb hier halb da."
Habe ich deshalb verschwommen gesehen und Stimmen von weit weit weg gehört?
"Doktor? Was kann ich dagegen tun?" Ich bin mir sicher das er die Verzweiflung aus meiner Stimme hört.
"Nichts! Das einzige was du tun kannst ist nichts mehr empfinden. Und ganz unter uns was hat dieses Leben dann noch für Vorzüge für dich?" Er zwinkert mir verschmitzt zu und entlockt mir tatsächlich ein Lächeln. Doktor Mühr legt mir eine Hand auf die Schulter: "Es ist für dich noch nicht vorbei." In seinen Augen sehe ich eine tiefe Trauer, aber bevor ich nachhacken kann, ist er aufgestanden und hat das Zimmer verlassen.
Irgendetwas ist komisch an ihm.
Erst sagt er mir eiskalt meine Diagnose ins Gesicht, dann ist er bei einer therapiesitzung dabei. Dann wirft er mir immer wieder Blicke zu die ich nicht deuten kann und jetzt macht er mir auf seine eigene weise Mut.
Werde ich irgendwann erfahren, was er sieht wenn er mich anschaut?

Immer noch langsam und mich an der Wand anstützend mache ich mich auf den Weg zu Seths Zimmer zurück.

Das Zimmer wurde aufgeräumt, aber der strenge Geruch ist immer noch da. Seth lächelt mich erleichtert an. Zögernd lächele ich zurück und setze mich auf den Stuhl neben dem Bett.
Er nimmt schweigend meine Hand und dreht sich auf die Seite um mich besser sehen zu können.
Mehr nicht. Aber sein Blick sagt mir mehr als Worte. Ich drücke seine Hand und entspanne mich leicht.
Als ich merke wie sein Blick schwer wird, streiche ich ihm über den Kopf und löse sanft meine Hand aus seiner, dann decke ich ihn ordentlich zu und verlasse leise das Zimmer.

Ich möchte nach Hause.
Ich möchte von meiner Mutter in den Arm genommen werden.

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