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Ich sitze auf der Parkbank, an der ich mich zum ersten Mal mit Seth über meine Diagnose unterhalten habe. Die Blumen blühen noch immer in derselben Pracht und seltsamerweise versetzt es mir einen schmerzhaften stich. Manche Dinge verwelken, während andere Dinge gerade erst richtig aufblühen. Verwelke ich, während Seth gerade erst richtig aufblüht? Seufzend streiche ich mir über die Glatze und frage mich, ob ich es noch erleben werde, wie mir Stoppeln wachsen. Werde ich je wieder meine Haarfarbe sehen? Ich weiß schon nicht mehr, wie genau es ausgesehen hat wenn Licht auf sie geschienen hat, wie es aussah wenn sie nass waren. Ich senke den Blick auf meine blassen Hände. Es kommt mir vor, als wären meine Finger länger geworden, aber vermutlich liegt es an meinem Gewichtsverlust. Wie alle Haare auf meinem Körper sind auch die wenigen Härchen die ich auf meinen Finger hatten als Folge der Chemotherapie ausgefallen. Seufzend fahre ich mir über den Oberschenkel und versuche meine Gedanken zu ordnen. Es nützt mir im Moment überhaupt nichts über Vergangenes zu trauern. Ich sollte mir überlegen wie ich verfahren kann, was für Möglichkeiten habe ich? Natürlich könnte ich die Stammzellentherapie machen, allerdings würde ich damit das Risiko eingehen zu sterben. Es wäre aber auch denkbar, dass ich viel wertvolle Zeit gewinne.

„Entweder alles oder nichts."

Dieses Sprichwort passt gerade auf seltsam perfide Weise auf mich zu. Ich lache bitter auf. Aber Herr Bamba ist mich nicht fertig.
„Lohnt es sich überhaupt wegen ein paar Monaten alles zu riskieren?"
Ich zucke die Schultern. Das alles sollte mich mehr treffen, aber vielleicht haben mich die vielen schlechten Nachrichten in der letzten Zeit abgestumpft.
Herr Bamba verschränkt nachdenklich die Hände auf dem Tisch.
Ich mustere ihn und frage mich zum ersten Mal ob er eigentlich eine Familie hat. Ich habe ihn bisher immer alleine gesehen und irgendwie hat er auch immer Zeit wenn ich ihn anrufe. Auch jetzt hat er einem spontanen treffen zugestimmt und sich alles angehört.
„Darf ich ihre ehrliche Meinung hören? Was würden sie tun wenn sie in meiner Lage wären?" Zum einen Teil interessiert es mich wirklich, was jemand wie Herr Bamba tun würde und zum anderen möchte ich einfach etwas haben was mir vielleicht hilft, diese Entscheidung zu treffen. Der Mann seufzt leise und schaut mich ernst an.
„Wie gesagt alles oder nichts. Ich würde es nicht tun. Mir wäre das Risiko zu hoch." Zwischen uns herrscht schweigen und ich starre ihn durchdringend an, Bamba jedoch hat den Blick auf den Tisch gesenkt.
Schämt er sich?
Und dann als wolle er von sich ablenken, fährt er fort.
„Du musst dich halt fragen ob fünf sechs Monate mehr Leben es mehr wert sind eventuell nichts mehr zu haben und zu sterben."
„Wow. Sie waren sehr hilfreich." Ich meine es nicht so, aber meine Stimme ist spöttisch. Der Mann seufzt und rauft sich die Haare. „Es tut mir Leid, diese Entscheidung kann niemand für dich treffen. Man kann die Tipps geben aber am Ende des Tages ist es dein Leben und nur du entscheidest darüber." Sein Blick ist vollkommen ernst und ich lasse diese Worte sacken.
„Sie haben recht." Ich stehe auf und verlasse ohne noch etwas zu sagen die Praxis.
Ich bemerke nicht, wie Bamba sich erneut fast schon verzweifelt die Haare rauft und sich anschließend die Handballen auf die Augen presst.

„Scheiße Mo, dein Leben kann echt nur noch besser werden."

Ich jogge schweigend durch die Wohngegend, bis ich außer Atem mich auf meinen Knien abstütze und versuche meine Tränen zurückzuhalten. Ich lasse mich auf dem harten Boden fallen und beruhige mich langsam. Als ich endlich soweit bin, stehe ich wieder auf und gehe langsam weiter.

„Mo." Lisas Vater lächelt mich an und öffnet mir dann ganz die Tür. „Du bist gerade rechtzeitig zum Essen." Ich lächele und ziehe meine Schuhe aus. „Das ist nett, aber ich habe keinen Hunger."
Schweigend sitzen wir am Tisch, zu hören ist nur das klappern des Bestecks und die leisen Kaugeräusche. Ich spüre immer wieder Blicke auf mir und räuspere mich kurz.
„Und was ist bei euch so spannendes passiert?" Lisa lacht: „Bald sind Prüfungen. Das ist alles mega stressig." Ich schaue sie aufmunternd an: „Das rockst du." Sie nickt überzeugt: „Ich weiß." Ich sehe wie ihr Vater die Augen verdreht. „Du würdest das schaffen, wenn du dich mehr auf deinen hintern setzen würdest und etwas lernen würdest!" Die stimme ihrer Mutter ist streng und für einen Moment frage ich mich was ich tun würde, vermutlich den ganzen Tag lernen. „Wie sieht's aus, wir können zusammen was lernen?" Lisa lächelt: „Klar, wenn dir das nichts ausmacht." Ich zucke die Schultern und Stütze den Kopf auf den Händen an. „Ich habe aber keine Ahnung mehr von nichts." Lisa grinst und springt auf. Begeistert stürmt sie vor mir her in ihr Zimmer. Fast schon außer Atem setze ich mich auf ihr Bett. Krank wie schnell ich erschöpft bin.
„Also schau her. Das hier ist die Mitternachtsformel. An die müsstest du dich eigentlich noch erinnern." Ich zucke die Schultern um ihr zu signalisieren, dass ich keine Ahnung habe wovon sie redet. Sie seufzt gespielt enttäuscht auf und beginnt mir alles mögliche zu erklären. Ich lehne mich an die wand und schalte irgendwann ab. Ich beobachte sie wie sie wild gestikulierend redet. Als ich merke wie ich mich immer mehr entspanne und sogar Gähnen muss richte ich mich wieder auf uns fokussiere den Blick wieder auf Lisa.
Sie seufzt und streckt sich auf dem Bett aus: „Hast du mir überhaupt zugehört?" Ich schüttele den Kopf und lege mich neben sie.
„Was würdest du tun, wenn du dich entscheiden würdest ob die Chance nutzt dein Leben zu verlängern, dafür aber das Risiko eingehst dabei zu sterben?" Langsam setzt Lisa sich auf und schaut mich durchdringend an: „Rhein hypothetisch?" Ich seufze leise: „Fünf oder sechs Monate mehr. Oder aber ich sterbe während dem Eingriff."
„Ich würde es nicht tun." Ich nicke nachdenklich: „Ja das dachte ich mir fast." Sie nimmt meine Hand und drückt sie. „Tut mir leid Lis. Ich bin so verdammt egoistisch. Du solltest dich auf deine Prüfungen konzentrieren und ich erzähl dir so was." Lisa schüttelt ernst den Kopf. „Hör auf damit. Du kannst nicht alles in dich reinfressen." Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Mach ich nicht." Entschieden richte ich mich auf und schaue sie ernst an. „So jetzt wird gelernt." Schmollend richtet sie sich auf und gemeinsam versuchen wir den Schulaufgaben einen Sinn zu entlocken.

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