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Als ich am nächsten Morgen aufwache liege ich alleine in Seths Bett.
Seufzend stehe ich auf und mache mich auf den Weg in die Küche.
Bingo.
Seth und seine Eltern sitzen am Tisch und unterhalten sich.
Ich bleibe einen Moment im Türrahmen stehen und beobachte Seth verträumt.
Es könnte alles so perfekt sein.
Ich schüttele langsam den Kopf und mache mich mit einem „Guten Morgen." bemerkbar, dann setze ich mich auf einen freien Stuhl.
Sie begrüßen mich alle und Seth haucht mir einen Kuss auf die Wange.
Lächelnd beobachte ich sie beim frühstücken, während auch mein Beutel mit Nahrung in meinem Körper verschwindet.
Wie üblich beteilige ich mich nicht viel an dem Gespräch, sondern beobachte Sie nur.

Und auf einmal wird es mir alles zu viel.
Ich stehe auf und gehe aus dem Haus. Ich muss hier weg.
Es hat mich erneut mir aller Wucht getroffen, sie werden leben ich nicht.
Wütend marschiere ich durch die Straßen der Wohnsiedlung und versuche die Wut zu bändigen, aber es geht nicht.
Sie Pumpt durch meine Adern und lässt mein Blut kochen.
Seufzend setze ich mich an eine leere Bushaltestelle und schließe kurz die Augen.
Ich sollte aufhören mich wie ein hormongesteuertes Drama Girl aufzuführen.
Dafür ist meine Zeit definitiv zu kurz.

Entschlossen drehe ich um und gehe zurück zu Seth.
Kurz vor der Haustür bleibe ich stehen und ziehe mein Handy aus der Tasche.
Ich halte es mir direkt vor das Gesicht um etwas erkennen zu können, dann wähle ich langsam eine Nummer.
„Hi ich bin's Mo. Kannst du mich abholen?"
Meine Stimme ist erstaunlich fest.
„Danke ja ich warte hier."
Ich setze mich auf den Bordstein und warte.
Ich schäme mich zurück zu Seth und seiner Familie zu gehen.
Stumm nehme ich mir vor ihn nachher anzurufen und mich mal wieder zu entschuldigen.

Zehn Minuten hält ein Auto vor mir und ich steige auf der Beifahrerseite ein.

„Danke Eric." Mein Cousin lächelt. „Immer wieder gerne."
Die Fahrt über herrscht Schweigen.
Als wir vor dem Haus meiner Eltern halten, bedanke ich mich noch einmal bei Eric und steige aus. "Mo." Überrascht drehe ich mich noch einmal um. Eric hat das Fenster heruntergelassen und beugt sich mit einem albernen Grinsen zu mir. "Ich bin so unentschlossen. Als Japanischer Krieger wäre ich ein Nunja." Und weil ich trotz allem immer noch einen echt schrägen Humor habe, lache ich zum ersten Mal seit langem richtig. So lange bis mir die Luft ausgeht und ich die Hand auf meine Brust drücke und mit der anderen einen Inhalator aus der Tasche krame und hastig einatme. Dann winke ich Eric noch einmal augenverdrehend zu und gehe langsam Richtung Türe.
Während ich die Türe aufschließe rufe ich Seth an und entschuldige mich für mein abruptes aufbrechen. Ich beruhige ihn, dass es mir gut geht und lehne mich für einen Moment erschöpft an die Haustür.
Mal wieder tut jeder Millimeter meines Körpers weh. Ich spiele kurz mit dem Gedanken Schmerztabletten zu schlucken, aber so viel Medikamente wie ich jeden Tag nehme verzichte ich auf alles was geht.

Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und blättert in einer Zeitung.
Ich lege mich neben sie und lege den Kopf in ihren Schoss, dann schließe ich die Augen.
Ich merke das sie sich kurz versteift, hat sie Angst das sie mich anstecken kann? Das würde es nicht schlimmer machen, als es schon ist.
„Mama?" Sie gibt ein Brummen von sich.
„Könnt ihr meinen Körper verbrennen?" Sie seufzt leise: „Du überlässt nichts dem Zufall richtig?" Ich zucke die Schultern.
„Wenn du willst Schatz. Können wir sonst noch etwas für dich tun?"
Ich öffne die Augen und schaue sie an.
„Ihr sollt an mich zurückdenken als die Mo die ich vor der ganzen Scheise war. Stark und unabhängig."
Sie lächelt leicht und streicht über den Kopf.
Ich habe nicht gemerkt das ich meine Perücke verloren habe.
„Ich werde mich immer an meine Tochter erinnern. An die Mo die du vor der Diagnose warst und an die Mo die du jetzt bist. Für mich ist das nämlich eine Mo. Sie zeigt uns nur immer wieder neue Seiten."
Ihr läuft eine einzelne Träne über die Wange und ich streiche sie mit seltsam ruhigen Fingern fort.
Ich weis das ich Ihr mit all diesen Fragen gerade wehtue, aber ich muss wissen was meine Mutter darüber denkt.
„Glaubst du man weiß wenn es soweit ist?"
Ich muss das Wort sterben nicht aussprechen, sie weis was ich meine.
„Ja. Schatz es ist einfach nur etwas Neues, das heißt nicht das es etwas schlechtes ist. Ein Abschnitt deines Lebens endet und etwas Neues unbekanntes beginnt. Und vor diesem unbekannten haben viele Angst."
Für einen Moment herrscht Stille.
„Mo du brauchst keine Angst zu haben, das weist du oder? Du beginnst etwas Neues, aufregendes und irgendwann werden wir uns auch wieder sehen. Nicht hier. Aber wir werden uns Wiedersehen."
Es ist diese Einstellung, welche es meiner Mutter ermöglicht mit mir darüber zu sprechen. Sie sieht es nicht als Ende an, sondern als Anfang etwas Neues. Und sie glaubt das wir uns Wiedersehen. Vielleicht nicht in dieser Form, aber wir werden uns Wiedersehen.
„Ich werde auch dann noch da sein, dass weist du oder? Ich richte mich langsam auf und schaue sie ernst an, dann lege ich eine Hand auf ihr Herz.
„Und zwar hier drin. Für immer. Da bin ich an einem sicheren Ort, von dort aus kann mich niemand vertreiben." Ich schaue sie aus vollem Herzen lächelnd an, dann gehe ich seltsam ruhig in mein Zimmer. Ich merke dass ich langsam bereit bin. Und es macht mir keine Angst.
Ist das innerer Frieden?

Der Schlaf überrollt mich mit einer komatösen Wirkung die ich willkommen Heise.
Als ich wieder aufwache erinnere ich mich nicht an irgendwelche Träume, sondern taumele noch halb schlafend in eine eiskalte Dusche.
Ausgeruht beschließe ich den Tag zu nutzen und ziehe nur zum Spaß eine Gesichtsmaske an.
Ich schreibe meinen Eltern einen kurzen Zettel das ich zum Abendessen zurück sein werde und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Lisa Seth und ich sitzen in meiner Lieblingseisdiele und während die beiden anderen ein Eis essen, schlurfe ich einen Schwarztee.
Wir lachen und reden, umschiffen geschickt alle Themen die gefährlich sein könnten.
Wir schaffen es uns einmal wie normale Teenager zu benehmen und einen schönen Tag zu verbringen.
Ich sehe Lisas leuchtende Augen und weis das ich mein Ziel für heute erreicht habe.

Als es an der Zeit für das Abendessen wird verabschieden wir uns und Seth und ich machen uns auf den Weg nach Hause. Ich spüre seinen unergründlichen Blick auf mir, aber ich bin noch nicht bereit ihm Rede und Antwort zu stehen.

Die unbeschwerte Stimmung bei dem gemeinsamen Abendessen lässt mein innerstes entspannen. Ich halte Seths Hand unter dem Tisch und beteilige mich ausnahmsweise lebhaft an dem Gespräch.

Als wir später alleine in der Dunkelheit meines Zimmers nebeneinander unter der Decke liegen, sagt er fast schon zu leise. "Du bereitest dich darauf vor nicht wahr?" Ich schließe die Augen und nicke. "Ja. Ich glaube es ist besser so. Wenn ich mich darauf vorbereite zu sterben, ist es erträglicher. Außerdem kann ich euch allen noch so viel wie möglich geben." Durch den Schutz der Dunkelheit lasse ich eine einzelne heiße Träne meine Wange hinunter kullern. "Aber es macht es nicht einfacher oder?" "Nein, aber es gibt glaube ich nichts was es erträglicher macht." Außer ein kleiner Cocktail, der alles schnell und schmerzlos beendet.
Wie du es willst, wann du es willst.
Ich schiebe den Gedanken fort, versuche ihn irgendwo festzunageln, wo ich ihm nie wieder gegenübertreten muss. Aber wenn ich ehrlich mit mir bin, ist die Entscheidung bereits getroffen. Als würde Seth es spüren nimmt er meine Hand. "Ich bin immer da, dass weist du?" Ich drücke sanft seine Hand, spreche jedoch nicht aus was mir im Kopf herumgeht.

Es gibt immer Entscheidungen die alleine getroffen werden müssen.

"Danke." Und damit ist für heute fast alles gesagt. Ich drehe mich um und kuschele mich an ihn. Schlafe mit dem gleichmäßigen Herzschlag im Ohr ein.

Schlaftrunken taumele ich in Richtung Wohnzimmer und bleibe an der Türe stehen, als ich Stimmen höre. Mama, Papa und Seth unterhalten sich und das Thema ist klar: Ich.

"Sie bereitet sich vor." Die Stimme meines Vaters ist belegt und so gebrochen, dass es mir das Herz bricht. "Ja. Aber vielleicht ist es besser so." Meine Mutter ist deutlich ruhiger und ich frage mich wann sie zusammenbricht. Wann Sie nicht mehr stark sein kann. "Aber warum?" Seths verzweifelte Stimme ist genauso schlimm wie die meines Vaters. "Sie denkt es ist besser so. Außerdem macht Sie sich so selber Mut, dass es uns dann einfacher fällt." Meine Mutter immer mit einer Erklärung parat die zu 100% stimmt. Der drang das Wohnzimmer zu stürmen ist stark, aber das darf ich nicht. Nicht jetzt. Sie sollen nicht wissen, dass ich das gehört habe. Stumm trete ich den Rückzug an und schließe mich in dem Badezimmer ein, wo ich abwesend verschiedene Perücken anprobiere. Mit den Gedanken jedoch weit weg bei dem Gespräch von gerade eben.

Ich muss einfach daran glauben, dass all das zu etwas gut ist. Was würde es jetzt irgendwem etwas nützen wenn ich toben und schreien würde? Es ist besser jetzt so zu tun als wäre ich mutig und entschlossen. Entschlossen bin ich, werde ich mit jeder Sekunde mehr. Aber nicht so entschlossen wie Sie alles es gerne hätten. Entschlossen so lange zu leben bis ich wirklich alles herausgeholt habe, was geht. Aber allein der Gedanke ist mir zu wider. Und in diesem Punkt muss ich so egoistisch sein, weil ich es sein werden die diese Hölle lebt und nicht all die anderen, die versuchen diese Hölle lebenswert zu gestalten. Dafür bin ich ihnen verdammt dankbar, aber es reicht einfach nicht. Und genau aus diesem Grund ist mein Ziel gerade nicht so lange wie möglich zu leben, sondern dafür zu sorgen, dass sich niemand wenn es vorbei ist irgendwelche Schuldzuweisungen gibt.

So viel zum Sinn des Lebens. Ist das wirklich etwas wonach man sein ganzes Leben nach suchen kann. Hat man dann nicht auch die ganze Zeit Angst davor enttäuscht zu werden. Enttäuscht wenn all die Erwartungen nicht zutreffen?

Seufzend nehme ich die platinblonde Perücke ab und belasse es meiner Glatze mit feinem Flaum. Und während ich mich endgültig auf den Weg zum Wohnzimmer mache, weiß ich nicht ob meine Entscheidung am Ende alles meinem Psychologen zu überlassen richtig ist.

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