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Mit einem Ruck schrecke ich hoch und werfe automatisch einen Blick auf die Uhr: 6.34.
Und dann trifft es mich wie ein Schlag in den Magen!

Heute ist meine erste Chemotherapie.

Ich spüre einen Abflug von Übelkeit und verdränge ihn sofort.
Ich will mich in meinem Bett zusammenrollen, mir die Decke über den Kopf ziehen und einfach alles vergessen.

Nur zwei Wochen. Ich versuche mir Mut zu machen, doch da gibt es auch die andere stimme in meinem Kopf.
Ja zwei Wochen voller Schmerz und die einzige frage die du dir stellen wirst, ist wieso du nicht jetzt schon sterben wirst!

Ich unterdrücke den Drang zu weinen und steige langsam aus dem Bett.
Im Bad vermeide ich jeglichen Blick in den Spiegel, bis mir bewusst wird, das das vielleicht das letzte mal sein wird, dass ich mich so sehe wie ich eigentlich mein ganzes Leben war.
Obwohl ich habe mich bereits verändert. In meinen Augen steht eine Traurigkeit, die ich noch nie bei mir gesehen habe.

Ganz vorsichtig beginne ich meine Haare zu kämmen. Ich will mich an das Gefühl meiner Haare erinnern. Vermutlich ist das dumm, aber ich habe Angst davor sie zu verlieren. Ich glaube mit einer Glatze fühle ich mich nackt.

Ich bin zu aufgedreht um ruhig in meinem Bett zu sitzen, also gehe ich in meinem Zimmer auf und ab.
In genau sieben Stunden werden Sie mir die Infusion geben, also um 14.00 Uhr.
Ich versuche nicht darüber nachzudenken ob es wehtun wird, stattdessen konzentriere ich mich auf einen bestimmten Punkt an der Wand. Immer wenn ich den Punkt nicht sehe, da ich gerade die andere Hälfte des Zimmers abgehe, schweifen meine Gedanken zurück zu dem Krebs.
Wieso merke ich nicht, dass ich Krebs habe?
Ich bin seit drei Tagen hier und habe keine offensichtlichen Anzeichen gehabt. Mit einem Ruck drehe ich mich um und konzentriere mich wieder auf den Punkt an der Wand. Auf der reinen weißen Wand ist ein einziger schwarzer Fleck.
Ich weiß nicht woher er kommt oder wie er dahin kommt, aber er erinnert mich an meinen Körper.
Bevor der Krebs sich in meinem Körper eingenistet hat, war er sauber, rein und unberührt.
Und dann kam der Krebs.
Er hat sich an der weißen Hülle festgekrallt und alles verseucht.
Jetzt lauert in meinem Körper eine Armee. Eine Armee die zuschlagen wird. Und dann wird sie meine reine weiße Hülle zerstören. Solange bis nichts mehr übrig ist, außer ein paar Knochen.
Und zum ersten Mal frage ich mich, was dann mit den Krebszellen passiert.
Sterben sie auch ab?
Verseuchen sie einen anderen Körper?
Ekel breitet sich in mir aus. Ekel vor mir selbst, Ekel vor dem Krebs, Ekel vor der ganzen Welt.

Irgendwann habe ich die Schnauze voll von meinem Zimmer und gehe auf den Gang.
Ohne jemanden zu beachten, gehe ich in Richtung der Fahrstühle.
Als ich in der Eingangshalle angekommen bin, setzte ich mich auf ein schwarzes Sofa und beobachte die Menschen, die hier ein-und ausgehen.

Es sehen hier nicht viele Menschen glücklich aus, eigentlich niemand außer diejenigen, wo angezogen und meistens in Begleitung von ein, zwei anderen Personen dieses Gebäude verlassen dürfen.
Gesund.
Und mit der Hoffnung, die ihnen deutlich in das Gesicht geschrieben steht, nie wieder zurück kommen zu müssen.

Krankenhaus.
Wieso heißt ein Gebäude, dessen Aufgabe es ist kranke Menschen zu heilen Krankenhaus?
Sollte es nicht Gesundheitshaus heißen?
Oder heißt es so weil hier so viele kranke Menschen auf einem Ort sind?

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als eine junge Frau mich fragt ob sie sich setzten kann. Ich nicke und Rutsche an den Rand des Sofas. Sie setzt sich und wiegt gleichzeitig das kleine Kind in ihren Armen. Ich schaue das Kind an und hoffe für alle die es kennen und für das Kind selber, dass es ihm gut geht. Die Frau sieht müde aus, so als hätte das Kind sie lange wach gehalten.

Das Stimmengewirr ist inzwischen lauter geworden, allerdings immer noch sehr angenehm.
In Krankenhäuser ist es nie laut, ist jeder leise weil man nicht auf sich aufmerksam machen will?
Ich schaue hoch und zucke leicht zusammen als mein Blick auf die Uhr fällt. 12.18 Uhr. Saß ich wirklich so lange hier? Ich stehe auf und lächele die Frau zum Abschied an.

Und dann stehe ich wieder in meinem Zimmer, ich weiß nicht was ich tun soll.
Ich setze mich auf den unbequemen Stuhl und warte.
Die Zeit vergeht viel zu schnell, mein Herz pocht zu schnell und ich wünsche mir, das das Leben mir eine andere Prüfung geschickt hätte. Aber wie heißt es so schön?
Das Leben teilt die Karten aus und du entscheidest wie du damit spielst!

Irgendwann kann ich mich auf nichts mehr konzentrieren. Geistesabwesend starte ich die Tür an und lausche meinem Herzen.
Mein Magen rumort, weil ich noch nichts gegessen habe, aber ich ignoriere es.
Es gab einmal Zeiten, da hatte ich mich für so etwas geschämt, vor allem wenn auch noch andere Menschen im Raum waren, aber heute ist es mir egal. Im Moment ist es alles egal. Fühlen sich so Menschen die zu Tode verurteilt auf ihre Hinrichtung warten?

Als es an der Tür klopft, schaue ich nicht hoch und drehe auch nicht den Kopf zur Uhr.
Ich bewege mich nicht.
"Es ist Zeit." Langsam stehe ich auf, mein Knöchel knackst, als wollte er widersprechen. Den Blick auf den Boden gesenkt, folge ich den Füßen der Frau durch den Korridor.
Der kahle Raum in den Sie mich geführt hat, bringt mich zum frösteln. Er hat keine Fenster und die Wände sin alle im gleichen kotzgelben Ton gestrichen.
In der einen Ecke steht eine schmale liege, auf der ich Platz nehmen soll.
Die Frau geht wieder aus dem Zimmer und lässt mich allein, allein mit meinem hämmernden Herzen.
Allesamt negative Gedanken rasen durch meinen Kopf, einer jagt den nächsten.
Der Raum verschwimmt vor meinen Augen. Ein Klos steckt in meinem Hals. Ich balle die Hände zu Fäusten und versuche meinen Herzschlag zu beruhigen.
Ich hasse es, wenn ich bei einem Arzt bin und man mich dann schon im Behandlungsraum noch warten lässt.

Als sich die Tür öffnet, weiß ich nicht ob ich erleichtert oder ängstlich sein soll.
Am Ende bin ich eine Mischung aus beidem. Der Arzt schüttelt mir die vor Aufregung feuchte Hand und sagt mir seinen Namen, den ich gleich wieder vergessen habe. Mit vor Aufregung trockenen Mund kann ich nicht sprechen und nicke nur stumm.
Der Arzt stellt den Infusionsständer neben die liege und ich schließe hastig die Augen, ich will das nicht sehen.
Ich spüre das piksen der Nadel, als er sie in meinen Arm rammt. 
Langsam öffne ich die Augen und der Arzt hilft mir aufzustehen. "Die Schwester bringt dich zurück in sein Zimmer." Ich gebe erneut keine Antwort, sondern lasse mich von der Schwester wie eine Gefangene zurück in mein Zimmer führen.

Ich setzte mich behutsam auf mein Bett und warte.
Warte darauf, dass sich die Flüssigkeit genug verbreitet hat, dass sie mir Höllenqualen bereitet.
Warte darauf, dass jemand kommt, der mit mir durch diese Hölle begleitet und wünsche mir gleichzeitig alleine zu sein.
Warte darauf, dass der Junge mit den grünen Augen mich besuchen kommt.
Warte auf die Nachricht, dass der Krebs verloren hat.

Und dann beginnt es.

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