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Erneut setze ich mich an die kleine Bar und bestelle mir einen alkoholfreien Cocktail.
Während ich auf mein Getränk warte, starre ich missmutig in die Luft.
Ich weiß nicht woher meine plötzlich schlechte Laune kommt, aber ich will nicht mehr spazieren gehen.
Ich verdränge das Gefühl mich betrinken zu wollen, weil ich meine Eltern nicht noch einmal so enttäuschen will.
Gedankenverloren rühre ich in meinem Getränk herum und ignoriere alles un mich herum. Ich habe den Blick auf das Glas gerichtet und beobachte einzelnen Wassertropfen die an dem Glas herunterlaufen.
Die Eiswürfel klirren leise gegeneinander und Ich zucke zusammen als mein Handy in meiner Hosentasche vibriert.
„Hallo?" Selbst meine Stimme hört sich missmutig an.
„Hallo kleine!"
„Seth!" Nicht einmal mehr er kann mich jetzt aufmuntern. Ich merke selbst das ich mich unglaublich grantig anhöre, aber ich bin plötzlich sauer auf ihn. Warum ist er nicht bei mir? Ich meine er hat doch die letzen Jahre auch auf Schule geschissen, bin ich jetzt nicht wichtiger?! Was macht es für einen Unterschied wenn er noch fünf sechs Monate mit diesem ganzen Scheiß wartet? Ich meine hat er dafür jetzt nicht ein ganzes Leben? Und für mich hat er nur noch sechs Monate Zeit.
Oder ist das nur der Neid der aus mir spricht?
„Alles klar?" Er hört sich unsicher an. „Natürlich." Pampe ich ihn an. „Was soll denn nicht stimmen?! Ich hocke hier alleine in Irland fest und mein Freund hat keine Zeit für mich obwohl ich nur noch wenige Monate habe." Es herrscht Stille und ich kippe meinen Cocktail runter, dann stehe ich auf und gehe in das Hotelzimmer zurück.
„Es tut mir so leid..." „Und was nützt mir das jetzt?!" Ich unterbreche ihn wütend, während ich den Aufzugsknopf drücke. „Richtig. Rein gar nichts. Also ich geh schlafen, viel Spaß beim lernen."
Damit beende ich das Telefonat und schalte das Gerät aus.
Ich lasse mich an der Innenseite der Türe hinuntergleiten und wische mir die Tränen von der Wange.
Ich weiß das Seth das nicht verdient hat, aber irgendwie musste das gerade raus.
Ich will das alles gar nicht.
Ich will einfach das Essen können was ich will ohne mir die Seele aus dem Leib zu kotzen.
Ich will Fernseher schauen ohne Augenschmerzen zu haben.
Aber vor allem will ich Seth in die Augen schauen können, ohne diese Angst das es das letzte mal sein könnte.

Als ich aufwache, ist es früher morgen. Ich stelle mich an das Fenster und beobachte fasziniert den Sonnenaufgang draußen. Meine schlechte Laune ist wieder verflogen und mit einem Hauch schlechten Gewissens rufe ich Seth an um mich zu entschuldigen. In dem Moment als die Mailbox angeht, merke ich wie meine Füße nachgeben. Ich sacke auf dem Boden zusammen und höre das schreckliche knacken von einem gebrochenen Knochen, dann ist alles weg. So schnell kann es vorbei sein, wenigstens habe ich keine Schmerzen. Mit diesem Gedanken, lass ich los.

Ich liege schon wieder in einem Krankenhaus. Für diese Feststellung brauche ich nicht meine Augen öffnen. Es ist dieser typische Geruch und diese unangenehm erzwungene Stille. Als ich mich doch dazu durchringen kann, die Augen zu öffnen, stelle ich fest das ich alleine bin. Seltsam. Bisher war eigentlich immer jemand da, wenn ich nach einem Anfall aufgewacht bin. Ich befinde mich in einem typischen Krankenhauszimmer. Derselbe sterile Geruch, dieselben leeren und trostlosen Wände. Meine pochenden Kopfschmerzen ausblendend seufze ich leise und setze mich langsam auf. Kurz dreht sich alles vor meinen Augen, aber zu meinem Glück ist mir nur ein bisschen schlecht. Ich stehe auf und gehe auf die Türe zu. Der typische Kittel scheuert unangenehm an meiner ohnehin schon gereizter Haut. Der Flur ist leer, langsam mache ich mich auf die Suche nach einer Schwester oder einem Arzt.

„Entschuldigen Sie?" Der junge Pfleger dreht sich zu mir um und mustert mich kurz, dann sehe ich in seinen Augen erkennen aufblitzen.
„Frau Lebert." Er nimmt mich am Arm und führt mich zurück in mein Zimmer. Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster stelle ich entmutigt fest, dass ich wohl wieder zuhause bin.
Ich schaue den Pfleger an, aber bevor ich ihn mit fragen bombardieren kann, fängt er an zu sprechen.
„Ich hole kurz einen Arzt. Warte hier." Bevor ich antworten kann, ist er aus dem Zimmer verschwunden.
„Hallo Mo." Ich schrecke hoch und meine Augen weiten sich als ich Doktor Mühr sehe.
„Hallo."
Mit einem seufzen setzt er sich auf einen Stuhl neben meinem Bett und mustert mich lange schweigend. Nervös zwirbele ich die Bettdecke zwischen meinen Fingern.
Die Stille zieht sich unendlich, dehnt sich wie ein Kaugummifaden der immer dünner wird aber nicht reist.
Die Kopfschmerzen nehmen noch ein bisschen zu und ein Krampf geht durch meinen Bauch. Mit zusammengebissenen Zähnen Schlinge ich die Arme um den Bauch.
Vermutlich war es eine Rippe die ich mir bei meinem Sturz gebrochen habe.
„Tja scheint als hätten wir uns früher als gedacht wiedergesehen." Ich hebe langsam den Kopf. Der Doktor schaut mich nicht an.
„Du hattest einen Anfall. In deinem Stadium nichts besonderes." „Warum bin ich dann hier?"
„Wir haben den Urlaub abgebrochen, damit du und deine Familie den Schlussstrich ziehen könnt."
Ich höre seine Worte, aber mein Verstand weigert sich zu verstehen.
„Warum jetzt schon? Mir bleiben noch mindestens drei Monate." Ich merke selbst wie ich darin bettele das er mir das bestätigt.
„Mo. Ich dachte ich habe dir klar gemacht, dass es jeden Tag aus sein kann." Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder.
„Das erklärt immer noch nicht warum ich hier bin." Meine stimme ist brüchig und ich kann Mühr nicht in die Augen schauen.
Lange herrscht Stille.
„Mo, das ist nichts wofür du dich schämen musst." Er atmet tief aus, so als würde er schmerzen haben.
„Es ist legal." Erneut lässt er mich warten. Die Stille dehnt sich aus, erdrückt mich.
„Es gibt einen Cocktail aus verschiedenen Substanzen die es schnell und schmerzlos beenden würden. So wie du es willst, wann du es willst."
Ich lasse die angehaltene Luft aus und schließe die Augen.
Ich höre wie Mühr das Zimmer verlässt und sacke an der Wand zusammen.
Auf eine seltsame Weise ist Mührs Vorschlag seltsam attraktiv. Ein anderer Teil, ein kleiner abgestumpfter Teil, wehrt sich schwach dagegen.
„So wie du es willst und wann du es willst."
Wäre das nicht der letze Akt Selbstbestimmung den ich mir gewünscht habe?
Aber andererseits war dann nicht alles umsonst, wenn ich es nicht immer wieder versuche?

Die Schmerzen sind schlimmer geworden, durchdringender. Sie Hämmern durch meinen Körper und zeigen mir wie fertig mein Körper ist.
Schwach, ausgemergelt und alt, wie lange kann er noch standhalten? Wäre es eine Erleichterung, wenn ich es beende?

„Endlich wieder zuhause." ich setze mich auf die Couch im Wohnzimmer und lächele meine Eltern an. Sie murmeln etwas von einem Tee und verschwinden in der Küche. Lena, Seth und ich sitzen schweigend im Wohnzimmer, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
Sie haben mich alle vor wenigen Stunden abgeholt. Weder Doktor Mühr noch ich erwähnten den Cocktail mit einem weiteren Wort.
Krampfhaft versuche ich meine Gedanken wegzulenken.
Was Herr Bamba wohl gerade macht?
Mein Finger zuckt und Seth nimmt meine Hand sanft in seine. Ich schaue ihn lange an. Er hat mir meinen Ausfall am Telefon nicht weiter übel genommen, hat es mit keinem Wort erwähnt wofür ich ihn dankbar bin.
Lisa lächelt leise in ihr Handy.

Als meine Eltern uns eine Tasse Tee reichen, nehme ich ihn dankend an und beginne das heiße Gebräu in mich hineinzuschlürfen. Es herrscht eine angenehme Stille und während Lisa und Seht sich langsam zu unterhalten beginnen, schweifen meine Gedanken erneut zu Doktor Mühr. Er hat mir doch eigentlich so etwas wie Sterbehilfe angeboten. Es zu beenden. Diese Vorstellung hat etwas verlockendes, aber kann ich Ihnen das wirklich antun. Ich wollte es schon immer selber beenden, selbst darüber bestimmen, wie, wann und wo es passiert. Aber bin ich jetzt wirklich bereit es durch zuziehen? Kann ich sie alle im Stich lassen, aber im Endeffekt werde ich sie sowieso in Stich lassen. Und so hätte ich selbst die Entscheidungsgewalt. Vielleicht muss ich doch noch einmal Herr Bamba einen Besuch abstatten. Ich muss meine Briefe beenden. Bevor mich der Mut wieder verlässt, stehe ich auf. Lisa und Seth schauen mich verwirrt an. Ich schaue sie kurz an, dann zwinge ich mich zu einem Lächeln. "Ich muss noch mal kurz weg. Dauert nicht lange." Bevor sie Zeit haben Fragen zu stellen, verlasse ich das Haus. Es ist ein drückendes Wetter, für meinen Geschmack viel zu warm und schwül. Solches Wetter ist nur im Urlaub erlaubt. Ich gehe langsam und merke dennoch wie mein Herz vor Anstrengung gegen meinen Brustkorb pump. Menschen die an mir vorbeieilen schauen mich mit verschiedensten Emotionen an, aber ich ignoriere es. All diese Blicke machen mir nichts mehr aus.
Die Zeiten sind vorbei.

"Guten Tag Mo. Was kann ich für ich tun?" Herr Bamba hat sich nicht verändert. Es ist überhaut so als wären seit unserer ersten Begegnung nur Stunden vergangen. "Ich würde noch einmal gerne meine Briefe bekommen." Er nickt ruhig und holt sie aus einer Schreibtischschublade hervor, dann geleitet er mich in einen kleinen, angrenzenden Raum und lässt mich allein. Allein mit den Schriftstücken die meinen Liebsten in der Trauerphase und danach helfen sollen. Ich brauche lange bis ich fertig bin. Es hat viel Überwindung gekostet, diese Briefe zu schreiben, zu ergänzen und zu vervollständigen.
Nachdenklich verschließe ich die Briefe und bleibe noch einen Moment auf dem Stuhl sitzen, dann gehe ich zurück zu Herr Bamba. Ich überreiche ihm die Briefe und atme tief durch. "Danke. Für alles. Sie haben mir sehr geholfen." Er schaut mich traurig an. "Alles endet irgendwann, nicht wahr?" Ich nicke ruhig, dann verlasse ich zum letzten Mal seine Praxis. Ohne mich umzudrehen, gehe ich zurück zu denen, die ich schon bald verlassen werde.

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