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Langsam öffne ich meine Augen, grelles Licht blendet mich und gleichmäßiges, schrilles piepen dringt an mein Ohr.
Mein Körper fühlt sich vollkommen taub an.
Ich will dem Kopf drehen, aber ich fühle nicht mal mehr meinen Hals. Und ich kann nicht einmal mehr Panik fühlen, ich bin innerlich leer, hat sich Seth so gefühlt? Ich erinnere mich noch gut an seine glanzlosen Augen, er hatte jegliche Hoffnung aufgegeben.

Seth!

Wie geht es ihm? Wie ist seine OP verlaufen?
Ich muss zu ihm.
Ich muss ihn in die Arme schließen können.
Wiederstand regt sich in mir, ich will hier weg. Ich will zu Seth.

Irgendwann beginne ich meinen Körper wieder zu spüren und mit dem Gefühl kommen die Schmerzen. Vermutlich haben sie mich mit Schmerzmittel vollgepumpt, bin ich eigentlich schon abhängig von dem Zeug, so viel wie sie mir in letzter Zeit davon verabreicht haben?

Langsam richte ich mich auf und schaue mich um.
Ich bin, wer hätte es gedacht, in einem Krankenhauszimmer.
Unachtsam reiße ich die Kabel aus meinen Armen und Bauch und ignoriere das lauter werdende Gepiepe gekonnt, dann richte ich mich auf und gehe auf wackeligen Beinen in Richtung Tür.

Ich trete auf einen langen Krankenhausgang.
Langsam laufe ich los. Ich habe Angst, dass mich jemand aufhält, gleichzeitig weiß ich nicht was ich jetzt vorhabe. Das einzige was ich will ist Seth. Mir würde es schon reichen ihn nur anzusehen.
Ich gehe auf dem Aufzug zu und trete in die Kabine.
Ein junger Mann steigt mit mir ein und wirft mir einen peinlich berührten Blick zu, aber ich ignoriere ihn.
Mein Blick geht über die Anzeige und ich stutze.
Es ist die gleiche Anzeige wie im Marienkrankenhaus.
Zögernd drücke ich den Knopf für die Station vier: Krebserkrankte.
Die Türen schließen und ich lehne mich erschöpft an die kalte Metallwand hinter mir. Immer noch spüre ich die Blicke des Kerls auf mir. Ruhig öffne ich die Augen: "Ist was?" Er stottert etwas unverständliches und schüttelt den Kopf. Ich seufze leise und drehe den Kopf und erstarre.
"Nein." Meine Stimme zittert und ich hebe die Hand, die Person im Spiegel macht exakt das gleiche.
Verstört weiche ich einen schritt zurück. Das kann nicht sein. Aber die Wahrheit ist unumstößlich und eiskalt.
Ich habe eine komplette Glatze.
Meine schönen Haare, sie sind weg.
Eine Träne rollt meine Wange hinunter und ich wische sie hastig weg. Mit einem ruck wende ich mich von dem Spiegel ab und steige aus dem Fahrstuhl, der an der vierten Etage angekommen ist.
Immer noch zitternd gehe ich den Gang entlang und bleibe vor dem Zimmer stehen, in dem Seth sein müsste.
Ich lege die hand auf die Türe, wie wird er mich jetzt sehen? Ich atme ein letztes mal tief durch und rufe mir seine Worte bei unserem letzten Telefonat ins Gedächtnis.

Man sieht sich Kleine.

Ich bin hier.

Ich stoße die Tür auf und platze mitten in ein Familientreffen, aber ich mache mir keine Gedanken darüber.
Seth ist blass und sieht erschöpft aus, tiefe Ringe zieren seine Augen und sein rechtes Bein endet knapp unterhalb des Knies. Aber das ist mir egal, ich sehe nur seine wunderschönen Augen, die aufleuchten als er mich sieht.

"Von wo bist du denn ausgebrochen?" Er lacht sanft und ignoriert die fragenden Blick seiner Familie, dann breitet er die Arme aus und ich laufe los und werfe mich auf ihn. Dann vergrabe ich den Kopf an seiner Brust und genieße einfach das Gefühl wieder bei ihm zu sein. Er schlingt den rechten Arm um mich und streicht mir mit der linken Hand über den nackten Kopf.
Ich bin ihm so dankbar das er mir keine fragen stellt, einfach akzeptiert das ich jetzt hier bin.
"Ich hab dich so vermisst." Seine Stimme jagt mir einen Schauder über den Rücken, aber bevor ich antworten kann wird die Tür aufgerissen.
"Mo Lebert! Was zur Hölle soll das werden junges Fräulein?" Ich Kralle die Arme panisch fest um Seth, ich werde nicht gehen!
Doch Seth tut etwas womit ich nie gerechnet hätte.
Er lacht!
"Huh. Ich hatte recht, also Kleine wo bist du denn ausgebrochen?"
Doch der Arzt wettert weiter.
"Wir haben dir das Leben gerettet. Es war unmöglich, dein Herz stand still." An dieser stelle merke ich wie Seth sich verkrampft. Aber der Arzt ist noch nicht fertig.
"Wir haben dir eine verdammt hohe Dosis Elektroschocks verpasst, sie waren so stark dass du davon unfruchtbar geworden bist, obwohl wenn ich mir es recht überlege kann ihnen das egal sein nicht wahr? Sie leben ja eh nicht mehr lang genug!" Ich erstarre und stehe langsam auf: "Sagen sie das nochmal!" Ich wusste gar nicht das ich so eine eiskalte Stimme haben kann, aber diese Worte waren zu viel, ich sehe rot.
"Ich habe gesagt das die Tatsache das du unfruchtbar bist bei dir niemandem groß stört. Und wenn ich schon mal dabei bin, es ist unglaublich wie undankbar Sie sind.
Wir haben ihnen Zeit verschafft und sie haben es abgelehnt! Jetzt hatten sie die Chance auf Reise von der andere nur träumen können und was? Richtig sie haben es vermasselt, weil sie zu unfähig sind die Infobroschrieren zu lesen die wir ihnen gegeben hatten!"
Falls er noch etwas hätte sagen wollen, hätte er keine Chance gehabt.
Bevor irgendjemand reagieren konnte stürze ich mich auf ihn und ramme ihm die geballte Faust mit voller Wucht ins Gesicht. Er schreit und taumelt einen Schritt zurück. Ich will mich auf ihn stürzen, aber eine Krankenschwester hält mich auf und reist mich zurück. Ich wehre mich verzweifelt gegen den Griff, aber ich bin zu schwach.
Ich beginne zu schreien und als der Arzt hastig das Zimmer verletzt breche ich in Schluchzer aus.
Als die Schwester merkt das ich nichts mehr tun werde, lässt sie mich los und eilt dem Arzt hinter her.
Ich lasse mich an der Wand hinuntergleiten und schlinge die Arme um die Knie, dann bette ich den Kopf auf die Knie und weine stumm weiter.

Unfruchtbar.

In gewisser weise hat der Arzt recht, es macht nichts mehr, aber es so ins Gesicht geknallt zu bekommen war falsch.
Vielleicht hatte der Arzt recht, es war meine Schuld aber ich wollte doch nur glücklich sein. Und jetzt bin ich wieder hier, das hat super funktioniert.
Aber warum bin ich eigentlich wieder hier? Was ist passiert? Ich erinnere mich nur noch das wir auf den Anden waren, an dieses pure Glücksgefühl und dann habe ich keine Luft mehr bekommen.
Ich hebe den Kopf und wische mir die Tränen fort.
Alle Personen im Raum starren mich an als wäre ich durchgeknallt alle außer Seth der mich anschaut als wäre ich etwas unglaublich tolles.
Ich erkenne seine Mutter und Vater, sind sie anderen seine Oma und Opa und vielleicht zwei Brüder?
"Äh ich." Verlegen Krätze ich mich am Kopf und laufe rot an.
Was soll ich jetzt tun?
"Das war ein verdammt guter Schlag!" Seth sieht aus als würde er vor stolz beinahe platzen. Mein Herz macht einen Satz. "Ok. Als erstes wer bist du? Und zweitens was war das gerade?" Einer der beiden Jungen schaut mich ernst und fragend an.
Zögernd stehe ich auf, unfähig zu sprechen.
"Das ist Mo, meine Freundin!" Nach dieser Aussage herrscht Stille. Ich habe das dringende Bedürfnis mich hinter ihm zu verstecken, aber er zieht mich mit und wir setzen uns nebeneinander auf das Bett.
"Und Frage zwei musst du uns wohl beantworten." Seth schaut mich aufgeregt an.
"Naja ich weiß nicht genau was passiert ist aber ich bin auf der Intensivstation aufgewacht und wollte zu jemanden den ich kenne. Ich wusste erst gar nicht wo ich bin und bin dann einfach weggerannt bis ich wiedererkannt habe das ich wieder in dem Krankenhaus bin." Seth grinst: "Du spinnst! Welcher normaler Mensch verpisst sich einfach aus der Intensivstation? Aber ich kann dir sagen was passiert ist.
Die dünne Luft in den Anden war zu viel für deinen Körper, du hattest einen kompletten Blackout. Und bis man dich von dem beschissenen Berg runter hatte warst du tod. Wie gesagt haben sie dich nur mit knapper not zurückholen können und deine Haare mussten wohl dran glauben." Ich zucke zusammen und lache bitter auf: "Wohl nicht nur meine Haare." Einen Moment lang herrscht Stille. "Na wie auch immer. Meine Eltern kennst du ja schon. Das hier sind Mark und Nico meine Cousins und meine Oma und Opa." Ich schaue hoch und begrüße die anwesenden höflich. Ich sehe in ihren Augen das sie viele Fragen haben und weiß das ich dafür jetzt keine nerven habe.
Hastig springe ich auf: 'Tut mir leid. Aber ich bin mir sicher man benachrichtigt meine Eltern." Seth zieht eine Augenbraue hoch: "Ich komm nachher nochmal du musst mir alles erzählen." Ich ertsarre und er merkt im selber Moment was er gesagt hat. "Ich komme!" Ich strahle ihn breit an und gehe aus dem Zimmer.
Seine Prothese. Ich hab sie voll vergessen.

Ich gehe zur dem kleinen Büro an dem immer eine Schwester sein muss und klopfe an eine Scheibe.
Die Schwester schaut hoch und lächelt, dann kommt sie zu mir auf den Gang.
"Hallo Frau Lebert." "Bitte nenen sie mich Mo." Ich unterbrechen sie hastig. Sie nickt und fährt fort.
"Wir haben ihre Eltern benachrichtigt. Außerdem haben wir beschlossen ihnen die Wahl zu lassen ob sie nach Hause gehen wollen oder hier bleiben möchten. Sie sind körperlich in einer dermaßen schlechten Verfassung das nicht einmal Chemotherapien mehr helfen würden. Es tut mir leid." Diese Worte schmerzen, aber ich zwinge mich die Frage zu stellen: "Wie lange habe ich noch?" Die Frau nickt kurz: "Es bleibt bei ungefähr sechs Monaten." Die Schwester legt beide Hände auf meine Schultern und drückt sanft zu: "Wir haben getan was wir konnten, der Rest liegt an ihnen. Lassen sie sich nichts gefallen, tun sie wonach ihnen der Sinn steht. Man lebt schließlich nur einmal oder?" Ein trauriges Lächeln liegt auf ihren Lippen, ich stehe vor ihr unfähig ein Wort zu sagen. Noch einmal drückt sie meine schultern, dann geht sie zurück in ihr Büro. Warum war sie so freundlich zu mir? Ich habe einem Arzt ins Gesicht geschlagen!

Als ich wieder einmal auf dem Sofa in der Eingangshalle der Krankenhauses sitze versuche ich an gar nichts zu denken. Stattdessen achte ich auf meine Umgebung. Ich bemerke die vielen Blicke der Menschen die an mir vorbeilaufen, manche abwertend andere angeekelt, andere verwirrt oder mitleidig. Und es ist mir egal.
Ich beschließe auch keine Perücken zu tragen, ich bin was ich bin und damit muss ich leben.

Als endlich meine Eltern durch die Eingangstüren treten springe ich auf und werfe mich in ihre Arme.
Beide klammern sich an mir fest als hätten sie Angst ich würde ihnn fortlaufen, aber ich halte sie vermutlich genauso fest.
"Können wir nach Hause?" Mein Vater nickt und sie nehmen mich in die Mitte und jeder nimmt eine meiner Hände, so gehen wir in Richtung Auto.

Hei, ich wünsche euch allen schöne Weihnachten.
Erholt euch gut von der Schule, Arbeit oder was auch immer.

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