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Vollkommen erschöpft falle ich in das Bett und schlafe fast sofort ein.
Mein Schlaf ist unruhig und ich wache mehrmals mit Herzrasen auf.
Irgendwann stehe ich vollends auf und ziehe mich leise an, dann verlasse ich das Zimmer und setze mit mit dem Rücken zur Wand auf den Boden.
Ich wähle Seths Nummer und hoffe das er abhebt. Ich will seine Stimme hören. Ich weiß das es bei ihm gerade drei Uhr nachts ist, aber ich kann gerade einfach nicht anders als so verdammt egoistisch zu sein.
„Hei." Er hört sich echt verschlafen an und ich verdränge den Abflug schlechten Gewissens.
„Hei." Ich lege so viel Begeisterung wie möglich in meine Stimme und schließe die Augen.
„Wie geht es dir so? Was macht die schule?" Ich könnte ihm noch mehr fragen stellen, aber da er offenbar gerade erst wachgeworden ist halte ich mich zurück.
„Mir geht es gut. Schule ist stressig. Gott sei dank ist bald Weihnachten." Ich lächele. „Das schaffst du." Er lacht Rau. „Natürlich. Ich zähle schon die Stunden wann ich endlich im Flieger zu dir sitze." Ich fange an zu strahlen. „Irland ist toll." Und dann beginne ich ihm über Irland vorzuschwärmen. Er hört mir schweigend zu und irgendwann gähnt er laut. Ich unterbreche meinen Vortrag kurz.
„Sorry das ich so spät Anrufe." Er lacht „Kein Ding. Ich höre dir gerne zu." Ich öffne kurz die Augen, aber es verändert sich nichts an den Lichtverhältnissen. Scheint so als ginge es auch mit meinen Augen immer mehr bergab.
„Alles in Ordnung?" „Ja alles klar." Einen Moment herrscht schweigen, dann fahre ich fort.
„Danke." „Wofür?" Ich höre die Verwirrung in seiner Stimme.
„Dafür das du abgenommen hast. Ich freue mich schon darauf dich wiederzusehen." Er lacht: „ich mich auch Kleine." Dann legt er auf und ich lasse meine Hand sinken.
Es geht ihm gut. Das ist gut.
Seltsam erleichtert gehe ich zurück in das Bett und schlafe fast sofort friedlich ein.

„Mo aufstehen." Gähnend stehe ich auf und schaue meine Eltern müde an die vollkommen motiviert vor mir stehen. "Es ist viel zu früh." Murrend drehe ich mich um und will mich gerade wieder in mein warmes Bett kuscheln, als meine Eltern mir meine Decke wegziehen. "Los. Aufstehen!" Knurrend stehe ich auf und sacke sofort wieder auf der Bett. "Kaaaalt." Jammernd schaue ich meine Eltern an, aber sie beide stehen mit verschränkten armen unerbittlich vor mir. Langsam in der Hoffnung das sie aufgeben, mache ich mich auf den Weg in das Badezimmer und beginne mir die Zähne zu putzen. Aber wie erwartet zeigen sie keine Gnade und wenige Minuten später sind wir bereits draußen. Fröstelnd gehe ich hinter meinen Eltern her und versuche meine Augen offen zu halten. Durch meine Augenschwäche sieht es so aus als wäre Dämmerung und ich muss aufpassen nicht zu stolpern. Meine Eltern reden fröhlich miteinander während sie ihren Kaffee trinken. Gähnend reibe ich mir die Augen und versuche wirklich mich auf das Gespräch zu konzentrieren, aber es geht irgenwie nicht. Mein Hirn fühlt sich an wie Matsche und meine Laune ist echt im Keller. Der eiskalte Wind macht die Tatsache das mir schon seit dem Aufstehen eiskalt ist, nicht besser.  Ich ziehe einmal besonders laut die Nase hoch einfach nur um meine Eltern zu provozieren. Aus irgendeinem Grund bin ich mega auf streit aus und es provoziert mich gerade nur noch mehr das meine Eltern mich gerade wie Luft behandeln.

"Wir sind da!" Triumphierend dreht sich meine Mutter zu uns um. Verwirrt schaue ich mich um, kann aber nichts sehen. Ich will gerade beginnen loszumaulen, als mein Vater einen verzückten Laut ausstößt und los läuft, meine Mutter nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Wir betreten ein Gebäude und uns umgibt Dunkelheit. Ich packe Mamas Hand fester und bemerke das sie sie beruhigend drückt. "Was ist das hier?" Meine stimme ist leise und scheint sich in der endlosen Dunkelheit zu verlieren. Und dann löst sich Mamas Hand aus meiner und ich bin alleine, alleine in vollkommener Dunkelheit. Was soll das werden? was passiert hier? Panik durchflutet meinen Körper. Und dann spüre ich eine Hand sich sich sanft auf meinen Arm legt. Sie fühlt sich rau an. "Guten Tag. Mein Name ist Lisa und ich bin ihre persönliche Führerin." "Was ist das hier?" Meine stimme zitter leicht. Die Frauenstimme bleibt ruhig und sanft. "Du brauchst keine Angst zu haben Mo.  Das hier ist eine unterirdische Stadtführung, die in vollkommener Dunkelheit stattfindet. Dabei sollen den Besuchern klar gemacht werden, wie sehr sie ihr Augenlicht schätzen sollen." Ich bin komplett geschockt. Was soll das? Ich kann doch eh nicht mehr so viel sehen, warum tut Mama mir das dann an? Meine Tränen wollen fließen, aber ich halte sie zurück. Ich will jetzt nicht weinen. Die Frau zieht mich sanft mit sich und ich schließe meine Augen und versuche ihr zu vertrauen.
Sie verstärkt den Druck sanft auf meinem Arm.
„Ich bin blind. Und du sollst in den nächsten anderthalb Stunden lernen was das für ein Gefühl ist. Du sollst lernen anderen wortwörtlich blind zu vertrauen und vielleicht schaffst du es ja auch dich so weit zu entspannen, das du ruhiger wirst. Ruhiger als es dir mit all den alltäglichen Lichtern und Geräuschen je gelingen wird."
Daraufhin setzt sich die Frau in Bewegung.
Unsicher folge ich ihr und lasse mich von einer vollkommen Fremden durch tiefe Dunkelheit leiten.
Mein Herzschlag anfangs rasend wird mit jedem Schritt den ich zurücklege ruhiger.
Zu meiner vollen Überraschung beruhigt mich die Dunkelheit und die zu anfangs bedrohliche wirkende Ruhe.
„Lisa?" Ich weiß nicht warum aber ich habe das Bedürfnis ihr eine Frage zu stellen.
Als von ihr keine Reaktion kommt, nehme ich das als Zeichen weiterzusprechen.
„Wie lange sind Sie schon blind?" „Seit Geburt an." Ich nicke leicht und schließe meine sowieso nutzlosen Augen.
Ich merke wie ich ihr mehr vertraue und mein Körper leichter wird.
Angenehme Ruhe durchflutet mich und ich weiß das ich im Moment alles ausblende. Nur Lisas Hand auf meinem Arm zählt. Und die angenehm leisen Geräusche unserer Schritte und ein leichter Luftzug gibt mir ein seltsames Gefühl von Sicherheit.

Als ich einen kleinen Lichtschimmer vernehme, der immer stärker wird, bin ich beinahe enttäuscht das es vorbei ist.
Lisa führt mich wieder bis ins Tageslicht, aber bevor ich ihr irgendetwas sagen kann oder sie nur für einen Moment lang zu Mustern, ist sie bereits schon verschwunden.
Nachdenklich bleibe ich an Ort und Stelle stehen.
Warum hatte das gerade eine so beruhigende Wirkung auf mich?
Kann ich vielleicht darauf verträume, dass sollte ich meine Sehkraft vollständig verlieren es trotzdem weiter geht.
Wollte mir meine Mutter das vielleicht sogar begreiflich machen?
Ich atme einmal tief durch und versuche den Klos der sich in meinem Hals gebildet hat zu verdrängen.
Ich sollte nicht so viel über die Zukunft nachdenken und lieber den Moment genießen. Erst recht weil meine Zukunft beinahe nicht vorhanden ist.
„Und wie war deine Führung Schatz?" Ich drehe mich um und sehe meine Mutter strahlend vor mir.
Ich lächele sie matt an: „Interessant." Dann füge ich noch ein „und deine?" hinzu in der Hoffnung so weitere Fragen zu vermeiden. Ich möchte nicht über das Erlebnis gerade sprechen.
Und wirklich Mama legt einen Arm um mich und beginnt mir von ihrer Tour zu erzählen, während wir auf Papa warten.

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