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Alleine sitze ich auf dem unbequemen Bett umgeben von einem grünen Vorhang und verfluche mich zum tausendsten Mal dass ich mich erneut und freiwillig diesen Qualen ausgesetzt habe.
Als mich der Brechreiz überkommt, übergebe ich mich geräuschvoll in die Nierenschale.

Der Ablauf ist der gleiche wie immer. Es war der gleiche Arzt der mir die Infusion gegeben hat, die gleiche Schwester die mich in den Raum geführt hat, und es sind die gleichen Schmerzen. Aber es hat sich ein entscheidender Punkt geändert.

Es geht jetzt ums ganze. Entweder alles oder nichts.

Als die Schmerzen irgendwann weniger werden, schiebe ich den Vorhang zurück und versuche aufzustehen.
Aber meine Beine tragen mich nicht und ich kippe um. Als mein knochiger Körper auf dem Boden landet, durchfährt mich ein Schmerz, aber ich bleibe einfach liegen.
Ich spüre den Blick meiner Zimmergenossin auf mir und hoffe dass sie einfach geht.
Aber natürlich bleibt sie.
Langsam schaue ich hoch und sehe in ihrem Blick dieselbe Verachtung, die dort auch schon war als sie von meiner Diagnose erfahren hat.

Teilnahmslos verharre ich in der Position bis eine Schwester kommt und mir hochhilft.
Wenn mich bereits eine einzige Chemotherapie dermaßen außer Gefecht setzt, was passiert dann erst im nächsten Zyklus?

Als ich frisch geduscht wieder das Zimmer betrete ist das Mädchen nicht mehr alleine.
Ein junger Mann sitzt auf ihrer Bettkante und unterhält sie.
Ich setze ich auf mein Bett und nehme mein Handy zu Hand.
Der Bildschirm ist schon fast eingestaubt.
Ich stecke mir Kopfhörer an und lege mich in das Bett.
Soll die Musik meine Ohren doch kaputtmachen, mein Körper ist sowieso am Arsch.

Ich vergesse das Mädchen und Ihren Besuch, ich vergesse wo ich bin. Ich lasse mich einfach in die Musik fallen. Finde langsam zu meinem alten Ich zurück. Zu einer Mo die keine größeren Sorgen hatte, als die Schule.
Für einen kurzen Moment fühle ich mich frei, dann holen mich die Schmerzen zurück in die Realität.
Ich reiße mir die Kopfhörer aus den Ohren und rolle mich zu einer Kugel zusammen.
Meine Ohren schmerzen und auch die Kopfschmerzen sind wieder da.

Warum mache ich das ganze eigentlich noch?
Warum beende ich es nicht einfach?

Geschockt von mir selbst, presse ich meine Fäuste auf die Augen, warum denke ich so etwas?
Stumme Tränen laufen mir über das Gesicht, warum bin ich so allein?
Habe ich es etwa verdient, weil ich eine so egoistische Entscheidung getroffen habe?

Ich höre das Geräusch einer sich schließenden Türe und drehe mich um. Das Mädchen ist wieder alleine und starrt mich verdrießlich an.
Wie hieß sie gleich nochmal?
Amy?
„Ist was?" Meine stimme ist gereizt.
Sie antwortet nicht, schaut mich aber weiterhin an.
Genervt drehe ich mich auf den Rücken. „Höre bitte auf mich so anzustarren."
Ich höre sie seufzen und widerstehe dem Drang sie anzuschauen.
„Warum tust du das?"
Wow, ihre ersten Worte an mich. Als mich Schwester Anne in das Zimmer gebracht hat, hat sie uns einander vorgestellt. Nach ein paar gescheiterten Konversationsversuchen, habe ich aufgegeben.
„Warum tue ich was?"
Doch sie antwortet mir bereits nicht mehr. Als ich mich zu ihr drehe, liegt sie bereits mit dem Rücken zu mir und starrt aus dem Fenster.

Der Nachmittag vergeht in unangenehmen Schweigen und ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken immer wieder zu Seth wandern.
Schließlich halte ich es nicht aus und nehme mein Handy zu Hand.
Es klingelt und klingelt bis die Mailbox rangeht, mir wird schwer ums Herz als ich seine Stimme höre.
Warum geht er nicht an sein Handy?
Habe ich ihn so verletzt, dass er nichts mehr von mir wissen will? Oder braucht er einfach nur Zeit?

Schwester Anne unterbricht meine Gedanken. Leise anklopfend betritt sie das Zimmer und strahlt uns fröhlich an.
„Guten Abend." Ich zwinge mich zu lächeln, während das Mädchen keine Reaktion zeigt.
„Also mit wem anfangen wir an?"
Anne steht lächelnd zwischen unseren Betten und verdreht die Augen, als keine Reaktion kommt.
„Also gut Mo!" Ich verziehe das Gesicht, als sie mit ihrem Tablett voller Utensilien auf mich zukommt.
Fröhlich vor sich hin plappernd nimmt sie mir Blut ab, prüft meinen Herzschlag und fordert mich anschließend auf aufzustehen.
Verwirrt stehe ich auf, dass hier ist nicht der normale Ablauf.
Anne deutet auf die andere Seite des Raumes, neben Amys Bett wo eine kleine Waage steht.
Ich versteife mich, weiß aber das ich keine Wahl habe.
Langsam trotte ich auf das Ding zu und bleibe davor stehen.
„Ich will nicht."
Mir ist egal das ich mich wie ein Kleinkind aufführe, aber ich habe Angst vor den Zahlen.
Ich weiß das ich ungesund wenig wiege das braucht man mir nicht unter die Nase zu reiben.
„Mo. Du wiegst viel zu wenig. Und du wirst durch die Chemo noch mehr abnehmen. Wenn das so weitergeht stirbst du nicht an Atrophie sondern hungerst dich freiwillig zu Tode."
Amy dreht sich um und heftet den Blick auf mich.
Also steige ich auf die Waage und richte den Blick auf die leicht flimmernde Anzeige.
38,6kg.
Schwester Anne nickt notiert sich etwas und geht dann auf Amy zu.
Ich bin froh, dass sie nichts mehr gesagt hat.
„So Elly, jetzt zu dir meine Liebe."
Also hieß sie doch nicht Amy.
Seufzend schleppe ich mich zu meinem Bett zurück und rolle mich darauf zu einer kleinen Kugel zusammen.
38,6 kg das ist nicht normal egal wie ich es drehe oder wende.
Aber Schwester Anne wird sicherlich eine Lösung finden.
Ich verachte mich für diese Einstellung aber im Moment bin ich einfach fertig.
Ich füge mir freiwillig Schmerzen zu, verliere damit alle die ich liebe und wenn es blöd läuft, dass alles dann auch noch umsonst.

Irgendwann stellt Elly den Fernseher an.
Ich drehe mich um und richte den Blick auf sie.
Soll sie mal merken wie es ist die ganze Zeit angestarrt zu werden.
Zum ersten Mal seit ich angekommen bin, schaue ich mir das Mädchen richtig an.
Sie hat kurze dunkelbraune Haare und braune Augen. Elly hat eine eher mollige Gestalt.
Falls Sie meinen Blick bemerkt sagt sie nichts dazu.
Warum sie wohl hier ist?
Sie hat keine Chemo oder eine sonstige Behandlung bekommen und musste auch noch nicht zu einem Arzt.
Hatte sie vielleicht erst eine Operation?

Mir ist klar, dass ich mir all diese Fragen nur stelle um mich von meinem Depressionen abzulenken, aber was soll ich ansonsten tun?

Mein Handy vibriert und hastig nehme ich es von Nachttisch und sehe Seths Namen auf dem Display.
Mit hämmernden Herzen nehme ich ab.
„Hallo."
„Hey."
Instinktiv muss ich Lächeln, ich habe seine Stimme so unglaublich vermisst und das obwohl er nur wenige Tage nicht bei mir war.
Ich bemerke nicht das Elly erneut begonnen hat mich anzustarren.
Meine Hand umklammert das Handy und ich bekomme keinen Ton raus.
„Tut mir leid. Ich wollte mich früher melden." Eine Träne läuft mir über die Wange.
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Ich habe eine egoistische Entscheidung getroffen und trage dafür die Konsequenzen." Meine Lippen formen diese nächsten Worte ohne den Schmerz preiszugeben den sie anrichten.
„Ich würde es verstanden wenn du nicht mehr kommen würdest."
Einen Moment lang herrscht Stille.
„Ach Kleines. Wie könnte ich dich alleine lassen?"
Die Tränen laufen mir jetzt ungehindert über das Gesicht.
„Ich ich will dir nicht wehtun."
Meine Stimme zittert und ich hoffe das er mich irgendwie tröstet, dass er mir irgendwie das Gefühl von Geborgenheit geben kann.
„Kleine hör zu." Seths stimme ist ernst und meine freie Hand ballt sich zur Faust.
„Du hast mir wehgetan. Und zwar mit der Entscheidung dein Leben so unglaublich leichtfertig auf das Spiel zu setzen. Aber dann ist mir klar geworden, dass ich nur so denke weil ich jetzt geheilt bin. Mo meine Perspektiven haben sich schlagartig geändert, ich bin wieder in der Position wo ich ein Leben lang Zeit vor mir habe."
Einen kurzen Moment lang schweigen wir beide.
„Ich kenne allerdings auch die andere Seite. Ich war zwar nie ganz so ein Extremfall wie du, aber ich habe mir auch das Bein amputieren lassen mit dem Risiko, dass sie eventuell Fehler machen.
Es war mir egal wie dunkel der Tunnel war, das einzige was zählt ist das leuchten am anderen Ende, egal wie schwach."
Meine Tränen nehmen kein Ende mehr und ich muss mich zusammenreißen.
Seth hat mir gerade eine verdammt plausible Begründung geliefert warum ich meine Entscheidung getroffen haben könnte. Mir ist klar, dass meine Beweggründe von seinen nicht weit entfernt sind.
„Danke."
Das ist alles was ich sagen kann.
Und dann sagt er das was ich schon die ganze Zeit hören will.
„Sehen wir uns morgen kleine?"
Ich beginne heftig zu nicken, bis mir einfällt das er das Nichtsehen kann.
„Jaa. Das das wäre toll."
Sein raues lachen jagt mir eine Gänsehaut über den Körper, dann höre ich nur noch den regelmäßigen Piepton.

Lächelnd lege ich das Hand auf den Nachttisch und wische mir über das Gesicht.
Erst jetzt bemerke ich das Elly mich beobachtet.
Seufzend lege ich mich auf den Rücken.
„Wem willst du nicht wehtun?"
Ich ziehe spöttisch die Augenbraue hoch.
„Guten Tag. Ich bin Mo und du bist?"
Sie wirft mir einen angepissten Blick zu. "Ich bin Elly." Ich lächele sie ehrlich an. "Meinem Freund." Sie schaut mich überrascht an. "Du hast einen Freund?" Ich nicke. "Naja ich meinte ja nur, weil du ja echt in einer scheiß Situation steckst und" Sie verstummt aber ich weiß was sie sagen will. "Tja so dachte ich auch. Ich habe mich auch dagegen gewehrt, aber mir ist klar geworden das es nichts bringt. Vielleicht ist es in Ordnung das man in so einer Situation so egoistisch ist und einfach nur an sich denkt." Elly schweigt und schaut wieder auf den Fernseher. Da ich das Gespräch für beende halte, drehe ich mich auf den Rücken und versuche trotz des Lärmes zu schlafen.


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