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Weder meine Eltern noch Seth lassen sich anmerken, dass sie eben noch über mich gesprochen habe und zu meiner Überraschung hilft es mir so zu tun als hätte ich nichts mitbekommen.

Ich sitze mit halb geschlossenen Augen an Seth gelehnt auf den sofa und lasse mich von den Nachrichten berieseln, während ich meinen eigenen Gedanken nachhänge.

Es fängt ganz langsam an, beinahe bemerke ich es nicht durch meine trüben Gedanken, aber eben nur beinahe.
Ein leichtes kribbeln in den Füßen. Instinktiv ziehe ich die Knie an die Brust und massiere leicht meine Zehen.
Und dann wandert das Kribbeln bis in meine Knöchel. Ich erhöe den Druck mit meinen Händen, in der Hoffnung das unangenehme Gefühl loszuwerden. Aber ohne Erfolg.
„Alles in Ordnung?" Seth's Stimme holt mich in die Gegenwart zurück. Ich lächle leicht. „Klar. Alles fit." Er mustert mich kurz und richtet den Blick dann wieder auf den Fernseher. Ich folge seinem Blick kurz, wende ihn aber direkt wieder ab. Das flimmern ist zu viel für meine empfindliche Augen. Und als hätte es das ausgelöst, explodiert helles Licht vor meinen Augen. Es fühlt sich an als würde man mir den Schädel Spalten. Ich schreie kurz auf und falle von dem Sofa. Der Schmerz der meinen Körper durchzuckt als mein knochiges Ich auf dem harten Boden fällt, ist nach dem ebenen ertragbar. Wie von weit her merke ich wie Seth mich auf das Sofa zurücklegt und erstaunlich koordiniert beginnt zu handeln. Dann gebe ich auf und schließe die Augen. Das weise flimmern und Zucken ist zu grell zu schmerzhaft.
Seltsam.
Auf einmal bin ich so leicht. Alles fühlt sich so leicht an. Ich bin von jeden schmerzen losgelöst.
Ein schönes Gefühl, dann versinke ich in der tiefen Schwärze.

Es ist ein leiser Gedanke der langsam aber sicher lauter wird und mich fragt ob es in Ordnung ist jetzt zu gehen. Und mein tiefstes Innerstes schreit laut Ja. Es jubiliert und schafft es dennoch nicht die leise Stimme komplett zu übertönen.
Und mein Verstand arbeitet viel zu langsam um eine Chance zu haben, all das aufzuarbeiten. Meine Gefühle wiegen mich in Sicherheit, sagen dass es in diesem Leben für mich nichts mehr zu tun gibt und langsam ergebe ich mich dieser Glückseligkeit, es beendet zu haben.

Seth:

"Ach Mo. Soll es das etwa gewesen sein? Es tut mir wirklich leid, aber ich bin noch nicht bereit für das Ende. Mo wenn du da noch drin bist, dann bitte." Meine Stimme bricht, vielleicht ist es Unsinn hier zu sein. Vielleicht ist es ja schon zu spät.
"Mo. Du musst kämpfen, du bist eine Kriegerin. Ich weiß dass du das schaffen kannst. Du musst nur noch ein kleines bisschen länger aushalten."
Und dann? Die böse Stimme in meinem innern, verspottet mich gerade lautstark und ich bin zu schwach, zu schwach zu widersprechen. Ich lege den Kopf auf meine Arme ab und schließe meine müden Augen.

Mo liegt seit vier Tagen im Koma. Vor vier Tagen ist sie plötzlich zusammengebrochen als wir gerade Fernseher gesehen haben.
Die Vorwürfe zu langsam reagiert zu haben, schleichen sich erneut in mein Hirn. Und mit Ihnen die Wortes des Arztes.
"Es tut mir leid. Wir können nichts mehr für Mo Lebert tun. Ihre Herz schlägt noch, aber ansonsten." Er hat betreten geschwiegen und das Zimmer verlassen. Die Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich kann sie nicht verlieren. Noch nicht. Ich hatte auf so viel mehr Zeit gehofft. Ach Mo. Ich streiche ihr über die kalte glatte und viel zu blasse Wange. Die Haut einer Toten. Ich schreie wütend auf und springe auf. Ich will irgendetwas kaputt machen. Aber hier ist nichts. Nach meinem letzten Wutausbruch haben sie das Zimmer vollends leergeräumt.
Ich starre ausgelaugt auf die Armaturen der Geräte die Mo's Körper noch hier halten. Die sie künstlich beatmen, ihr Flüssignahrung einflösen.
Ich weiß, das ist genau das was sie nicht wollte, aber wir sind alle zu schwach. Zu schwach ihr diese letzte Reise zu erleichtern.
Zitternd setze ich mich wieder auf den Stuhl den ich seit den letzen vier Tagen nur für das nötigste verlassen habe. Ich nehme Ihre schlaffe, kalte Hand in meine. Wie trocken Ihre Haut ist. Ihre Hand zu streicheln fühlt sich anders an. Sie fühlt sich anders an.
"Bist du wirklich schon so weit?"
Wie so oft die letzten vier Tage stelle ich ihr diese Frage und erneut bekomme ich keine Antwort. Sie liegt auf dem Bett.
Kalt, weiß, regungslos.
So wie ich mich innerlich fühle.
Mehr Tod als lebendig.
Und wie jeden Abend bevor ich das Zimmer verlasse um mich umzuziehen küsse ich ihre Stirn und schaue in die matten grünen ausdruckslos Augen, die ich so sehr liebe.
Ich ziehe mich langsam an, ich fühle mich als wäre ich um Jahre gealtert.

Als ich zurück an das Bett gehe um meine Stille Wacht weiterzuführen, sitzt Mo's Mutter auf dem Stuhl. Sie lächelt mich traurig an. Ich setze mich schweigend auf den Bettrand und richte den Blick auf Mo's Gesicht. Fest entschlossen den Moment, in dem sie aufwacht nicht zu verpassen.
"Sie war bereit." Ich schaue die Frau neben mir nicht an. "Woher willst du das wissen?" Ich bekomme keine Antwort auf diese Frage und es war auch keine nötig, auch ich weiß das Mo bereit war. Sie hat es akzeptiert, sie ist so unendlich stark. "Das macht es nicht leichter." Meine Stimme bricht, eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel. "Ich weiß. Aber ich werde sie nicht länger in diesem Zustand lassen." Ich hebe den Blick und schaue Mo's Mutter an als würde ich sie zum ersten Mal sehen. Wut, Entsetzen und Unglauben pumpen durch meine Adern.
"Du gibst deine Tochter auf!" Sie lächelt traurig. "Nein. Ich lasse sie gehen." Dann nimmt sie mich in beide Arme, wiegt mich als wäre ich ein kleiner Junge. Und ich lasse es zu. Ich klammerte mich an sie wie an einen rettungsanker. Und jetzt spüre ich das auch sie von schluchzen geschüttelt wird.

In dem Krankenzimmer herrscht Dunkelheit. Nur ein kleines Nachtlicht scheint ein trübes Licht.
Ich fahre blind die Konturen von Mo's Gesicht nach.
Sie wandelt gerade zwischen den Welten. Zwischen denen der lebenden und denen der Toten.
Schon einmal war sie in einem solchen Zustand. Mo hat mir erzählt wie friedlich es dort war. Auf der falschen Seite, so hatte sie es genannt. Auf der falschen Seite.
Ist es immer noch die falsche Seite Mo?
Oder kannst du jetzt wirklich voll aufgehen in diesem Frieden.
Ist das einzige was dich noch von diesem Frieden, von dem Ende trennt, dieses Zimmer hier.
Dieses Zimmer mit der schlechten Luft und den weißen Wänden, die du immer verabscheut hast.
Dieses Zimmer mit seiner unnatürliche Stille, den unbeteiligten Krankenschwestern in ihren wehenden Kitteln, immer in Eile.

Dein Ziel war es nicht nur, dass du loslassen kannst, sondern auch das wir, die du zurück lässt, mit deinem Tod Frieden schließen können.
Ist es unfair, dich zurück haben zu wollen, wenn es dir an der anderen Seite besser geht?
Ist es egoistisch und kleinkariert?
Was würdest du an meiner Stelle tun?
Wenn du könntest, was würdest du zu mir sagen?

Und warum habe ich gerade schon in der vergangenheitsform von dir gesprochen?
Wütend reibe ich mir die brennenden Augen. Die vielen Tränen und der Schlafmangel der letzten Tage machen mir zu schaffen.
Erneut nehme ich Mo's Hand. Vergewissere mich das ihr puls noch schlägt. Schwach, aber für mich ein Zeichen von Hoffnung.
Oder?
Ich höre das gleichmäßige ticken des Wecker neben mir auf dem Boden. Mo's Mutter hat ihn mitgebracht, ich habe es nicht infrage gestellt, aber vielleicht in dem Versuch mir diese unerträgliche Stille zu erleichtern.

Und dann zucken Mo's Finger. Oder waren es meine Finger?
Hektisch Suche ich den Lichtschalter und als das grelle Licht mich blendet, jaule ich fast schon auf mit dem Gedanken an Mo's geschundenen Augen. Ich drücke den roten Knopf der die Schwestern alarmieren soll und beuge mich über Mo.
Sie liegt da unverändert, kalt, blass und totenähnlich.
Habe ich es mir nur eingebildet?
Eine Krankenschwester reißt die Tür auf und schaut mich fragend an, während sie an das Bett eilt.
"Mo's Hand. Sie hat gezuckt."
Ich kann in den Augen der Schwester sehen, dass sie mir nicht glaubt.
Kann ich es ihr wirklich verübeln? Ich glaube mir ja selbst kaum.
Dennoch beugt sie sich vor und tastet Mo gründlich ab. Mit einem Stethoskop checkt sie ihren Herzschlag und überprüft die Geräte die Mo's Herzschlag anzeigen. Sie erneuert eine infusion, die in Mo's linken Handgelenk endet und nimmt noch einmal Blut ab.
Dann schüttelt Sie gequält den Kopf und wirft mir einen erneuten mitleidigen Blick zu.
Dann drückt sie sanft meine Schulter und verlässt das Zimmer.
Lässt mich alleine, alleine mit einem Körper der durch Zwang in dieser Welt gehalten wird, während sich Seele und Geist nach der anderen Seite sehnen.
Mo wandelt gerade auf den Wegen zwischen Leben und Tod. Sie ist zwischen zwei Welten gefangen, nicht in der Lage die eine vollends zu verlassen, um den Sog der anderen nachzugeben.

"Ich weiß das du so etwas nicht wolltest. Deine Mutter wird es beenden, ich muss Abschied nehmen. Du sollst nur wissen, dass ich dich nie aufgeben werde. Du wirst immer bei mir sein. Und wir werden uns wieder sehen." Heiße Tränen des verrats, der Verzweiflung und der Schmerzen laufen mir über das Gesicht, dann stehe ich auf und gehe blind aus dem Zimmer. Verlasse das Krankenhaus.
Die eisige Kälte der Nacht tut mir gut. Ich setze mich auf eine Bank und versuche gar nicht erst mich zu beruhigen. Mein Körper wird von schluchzern geschüttelt und ich versuche mich daran zu erinnern wie es sich angefühlt hat, als ich während einer meiner chemos in dem Bett saß und plötzlich Mo aufgetaucht ist und mich festgehalten hat. Mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben hat. Sie hat mir Zuversicht vermittelt, dass es vorbeigeht.
Es wird auch jetzt vorbeigehen, weitergehen.

Aber bin ich schon bereit dafür?

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