Kapitel 10

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Gerade als ich anfangen wollte zu schreien, legt er seine Hand auf meinem Mund, und ich könnte schwören, dass seine Hand größer ist als mein Kopf, zumal ich einen kleinen Kopf habe und seine Hand das komplette Gegenteil ist. Um seine Hand, die mein Gesicht zerdrückt, von mir zu lösen, beiße ich ihm in die Handfläche. Can schaut mich entgeistert an. "Hast du mich jetzt ernsthaft gebissen?" Ich lache ihn aus. Denkt er, ich belasse es dabei? Er guckt mich nur aggressiv an und drückt mich gegen die Wand. Huch. Mein Herz schlägt schneller. Anscheinend ist er es nicht gewohnt, dass ihm jemand die Stirn bietet... oder dass ihn jemand beißt. "Hör auf mit dieser Scheiße und hab etwas Respekt! Benimm dich, wie es sich für eine Frau gehört!" Süß, erst wenn ich sterbe! "Wir kennen uns gerade mal gut eine Woche, bei der wir nicht wirklich etwas miteinander zu tun hatten und du redest hier von Respekt? Guck dich doch erstmal an, wie du dich benimmst, bevor du mir etwas von Respekt erzählst! Mag sein, dass dir Mädchen zu Füßen liegen, aber diese Weiber sind keine richtigen Frauen, nur naive Dinger, die für ein paar Tage, Wochen oder Monate, durch angebliche Zuneigung gestillt werden! Eine richtige Frau ist noch nie in dein Leben getreten, also halt deine gottverdammte Schnauze und lass mich gehen!", fauche ich ihn an, schubse ihn weg und gehe zur Haltestelle. "Das wird noch Folgen haben, Shana. Wir werden drei Jahre zusammen auf einer Schule verbringen, merk dir das!" Ich drehe mich noch einmal zu ihm und lache auf. "Meintest du heute nicht, dass ich es bereuen werde? Ich warte immer noch, wie du mich behandeln wirst oder was du machen wirst!" Mit diesen Worten lasse ich ihn dort stehen und laufe zur Haltestelle. Wegen dem Hund muss ich zehn Minuten warten. In dieser Zeit schreibe ich in der WhatsApp-Gruppe, die von Cathleen erstellt wurde.

'Can hat mich gerade abgefangen, wo wart ihr überhaupt?'

'Der Lehrer hat uns früher rausgelassen, dann sind wir vorgelaufen, aber du warst nicht im Bus', antwortet Cathleen.

'Du warst mit Can? Ich wusste es. Was habt ihr gemacht?', schreibt Viyan und fügt das Mondgesicht-Emoji hinzu. Er wird bei uns für so gut wie alles verwendet. In diesem Kontext hat er eine zweideutige Bedeutung. Ich schreibe alles, was passiert ist so genau, wie es geht.

'Er hat dir also den Mund zugehalten und dich gegen die Wand gedrückt?', schreibt Viyan und fügt eine ganze Reihe der Mondgesicht-Emojis hinzu. War klar, dass sie sich nur das merkt.

'Statt in seine Hand zu beißen, hättest du was anders mit deinem Mund machen können', fügt Cathleen hinzu und setzt ebenfalls drei Mondgesichter hinzu.

'Ihr seid solche Miststücke', schreibe ich und füge einen beleidigten Emoji hinzu. Ich bin zwar nicht beleidigt, aber er passt zu meiner Aussage.

'Shana, das hast du gut gemacht! Er dachte wohl ernsthaft, dass du dich nach dieser Aktion zurückziehst und ihn wie einen Gott behandelst.' Saliha, die Einzige die nicht so pervers ist. Eigentlich ist sie sehr selten pervers, diesen Part übernehmen wir immer.

'Shana, der Hammer, der Killer, der Chief!', schreibt Cathleen.

Ich komme zu Hause an und während die drei Mädchen in der Gruppe über Gott und die Welt schreiben, gehe ich auf Instagram. Nur meine engsten Freunde wissen, dass ich einmal meinen originalen Account habe, aber auch einen Fake-Account. Ich finde es besser, wenn die Menschen, die ich abonniert habe, mich nicht erkennen. Sonst hoffen sie noch, dass es einen Grund hat, dass ich ihnen folge. Im Fake-Account sind eigentlich nur die Bitches und Player der Stadt. Immer schickt einer von meinen Freunden oder ich ein Foto von einer dieser Personen in unsere Gruppe, denn sie haben auch Zugriff auf diesen Account. Jedenfalls fangen wir dann an über sie zu lästern, wie sie in ihren bauchfreien Oberteilen versuchen alles zu präsentieren oder wie sie sich den Rücken brechen, weil sie ihren Hintern betonen wollen. Sollen wir ein paar von der Schule stalken?, frage ich mich innerlich selbst. Ich tippe Ramazans Namen ein und seinen Nachnamen. Sofort steht sein Account in der Suchleiste. Einfacher als gedacht. Zum Glück ist sein Account auf öffentlich gestellt. Mir springen sofort die Bilder ins Gesicht. Ein Bild von ihm, oben ohne. Man muss gestehen, er ist gut gebaut, aber es direkt zu posten? Hebt es das Ego der Jungs? Wenn ein Mädchen eine große Oberweite hat, postet sie es doch auch nicht. Obwohl, doch. Sie tun es, aber nur, weil sie Aufmerksamkeit wollen. Egal! Ich suche in seinen Abonenntenliste, nach weiteren Leuten, die ich kennen könnte. Ich finde Malik und Can! Malik abonniere ich direkt, ohne auf seine Seite zugehen. Er ist der Ruhige von allen dreien. Jetzt kommt das Finale, nämlich Cans Instagramseite, die zum Glück nicht auf Privat gestellt ist. Sein neustes Bild ist ein Bild von ihm in einer Shisha-Bar, wo er den Rauch in die Luft pustet. Dabei sieht man seinen Adamsapfel und einen Teil der Brust, weil sein weißes T-Shirt ein V-Ausschnitt besitzt. Eigentlich finde ich beides Attraktiv, aber da ich ihn hasse, ist es für mich automatisch hässlich. Sein drittes Bild ist von ihm und einem Mädchen auf seinem Schoß, grässlich! Es handelt sich aber nicht um sein Schoßhündchen Aleyna, sondern um ein eigentlich hübsches Mädchen. Grüne Augen, blonde Haare. Unschuldig sieht sie auch aus, armes Mädchen. Ich glaube, er spielt ihr die große Liebe vor, elender Mistkerl! Genervt scrolle ich weiter und, oho! Ich erblicke ein Foto von ihm, Malik und Ramazan, alle drei Oberkörper frei, gut gebaut, im Hintergrund ein Schwimmbecken. Nicht schlecht, nicht schlecht! Alle drei lächeln auf dem Bild. Ich glaube, wenn Can nicht so arrogant wäre, würde ich mit ihm normal reden, wenn man sein Lächeln auf dem Bild betrachtet. Es sieht sch... scheiße aus. Ein weiteres Bild, ein Selfie um genau zu sein, ist sein aller erstes Bild mit einem Zitat: Bela nabêjet ez de hem, sprich: Das Unglück kommt unangekündigt. Wie recht du hast! Du kamst unangekündigt, Can! Er ist also ebenfalls Kurde. Jetzt kann ich ihn nicht beleidigen oder mit meinen Freundinnen über ihn auf Kurdisch reden, aber wer sagt, dass er den selben Dialekt, wie ich spricht? Alles ist möglich.

Ich werde von meiner Mutter gerufen und muss das Stalken beenden. "Was ist?", rufe ich zurück aber kriege keine Antwort. Ich stöhne genervt auf und gehe zu ihr ins Wohnzimmer, wo sie auf ihrem Handy Candy Crush spielt. "Was ist los?", frage ich nochmal nach. "Hara xare", sagt sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich gehe also runter, um meinem Vater beim Sachen tragen zu helfen. Wieso kauft dieser Mann vier Wassermelonen?, denke ich mir, als er mir die Früchte reicht. Auf dem Weg zurück reden wir nicht und laufen einfach in die Wohnung rein, wo in der Küche schon das Essen bereitsteht. Auch beim Essen rede ich nicht, sondern schaue amüsiert zu, wie meine Mutter, meinen Vater anmeckert, weil er vier Wassermelonen gekauft hat. "Ki çar sabasha kiret, Salih?", meckert sie ihn an weswegen ich lachen muss. Ich würde auch gerne wissen, wer vier Wassermelonen kauft. "Ich. Sie sehen gut aus", antwortet mein Vater. Ich liebe es, wenn sie streiten, denn es ist immer nur wegen solchen unnötigen Gründen. Letztens haben sie sich gestritten, weil mein Vater zu viel Decke an sich genommen hat und noch mehr Platz im Bett eingenommen hat, woraufhin er viele Beleidigungen meiner Mutter einstecken musste und da unsere Wände dünn sind und ihr Zimmer genau neben meinem ist, darf ich immer an der Show teilhaben. Ich esse zu Ende, gehe zurück ins Zimmer und schaue auf mein Handy. Ramazan hat mir zurück gesnappt.

'Hab verschlafen.' Wie kann jemand so lange schlafen? Okay, ich bin auch so, aber dafür muss ich auch bis 05:00 Uhr oder 06:00 Uhr wach bleiben und es müssen Ferien sein.

'Was ein Bär du bist', antworte ich und lege mein Handy weg, um Grey's Anatomy zu gucken. Während ich Dr. Avery und Dr. Shepherd angaffe, weil die beiden einfach so gutaussehende Ärzte sind, kriege ich eine weitere Snapchat-Nachricht von Ramazan, die ich mir erst nach siebzehn Minuten durchlese.

'Hast du Can heute wieder fertig gemacht?'

'Ja, wieso?', schreibe ich leicht verwirrt.

'Wir sind heute rausgegangen und haben ihn ein wenig aufgezogen.'

'Und weiter?' Jetzt bin ich neugierig. Er ist zum Chat gewechselt.

'Eigentlich ist es normal, dass wir uns gegenseitig runtermachen, aber heute haben wir deine Aktionen erwähnt und dann ist er voll ausgerastet. Er meinte, dass du alles bereuen wirst und er einfach noch nichts gemacht hat, damit du ruhig wirst.' Gut zu wissen, was ich mit ihm anstellen kann.

'Ich habe ihm schon gesagt, dass ich auf seine angeblichen Taten warten werde, er redet ziemlich groß bis jetzt.'

'Was hast du zu ihm gesagt?', fragt Ramazan mich.

'Ich habe ihm meine Meinung gesagt. Er soll nicht denken, dass ich so bin, wie seine Hündin.' Den Teil mit hinter die Ecke ziehen und an die Wand drücken, lasse ich mal lieber vorweg.

'Hündin?', fragt Ramazan.

'Ja, Aleyna.'

'Ach so. HAHAHAHA. Lass es mich wissen, wenn du ihn wieder mobbst, aber pass auf! Er kann richtig Aggressiv werden. Das was er dir gezeigt hat, war nichts.' Ouh.

'Gut zu wissen.'

Das will ich unbedingt sehen. Wenn meine Sticheleien ihn schon so reizen, muss ich unbedingt auch einmal der Auslöser eines richtigen Wutanfalls sein, aber dafür kenne ich ihn nicht gut genug und Ramazan möchte ich nicht fragen, weil ich ihn nicht genug kenne. Vielleicht wird er es ihm sagen? Das kann ich nicht riskieren, auch, wenn ich Ramazan mag, geöffnet habe ich mich ihm immer noch nicht. Aber wie genau meint Ramazan das mit dem Ausrasten? Würde er zuschlagen? Mich richtig heftig beleidigen? Ich kann mir nichts vorstellen. Hmm, komischer Typ. Can ist verdammt komisch. Ich habe niemanden gesehen, dessen Launen sich so stark und so schnell ändern. Das ist ja ein Chamäleon. Den Rest des Abends passiert nichts, ich lege also um 22:42 Uhr meine Kleidung bereit, putze meine Zähne und lege mich schlafen. Dabei denke ich immer noch an Can, hypothetische Gedanken und an seine Augen.

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt