Kapitel 82

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Ich kann meinen Ohren einfach nicht glauben. Mein Körper ist betäubt. Mein Herz schlägt schneller, als jemals zuvor. Das kann nicht wahr sein.

"Shana?" Im Hintergrund höre ich weitere Menschen, wahrscheinlich Polizisten.

Ich kann nicht einmal antworten und lege deswegen auf. Sie hatten einen Autounfall. Sofort springe ich aus dem Bett, kralle mir die nächstbeste Jacke und renne in Hausschuhen zu Tür. "Mama, Ranja ist im Krankenhaus! Ich muss zu ihr!", sage ich mit zittriger Stimme. Mein Herz pocht. Meiner Mutter steht besorgt auf. "Bleib hier, bitte." Ich reiße die Tür sofort auf und renne los. Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht die Tür zu schließen. Ich renne die Treppen runter, da mir der Aufzug zu lange dauern würde, währenddessen rufe ich Ranja an.

"Ja?", fragt sie gut gelaunt.

"Ranja?", sage ich mit brüchiger Stimme und springe die letzten vier Treppenstufen der fünften Etage runter.

"Shana? Was ist los?", fragt sie besorgt.

"Du bist mein Alibi", flüstere ich, lege mit diesem kryptischen Satz auf und konzentriere mich darauf, nicht hinzufliegen, als mir meine Tränen die Sicht versperren.

Sie hatten einen Autounfall. Ich weiß doch, dass Can diese Angst, dieses Trauma besitzt. Genau das macht mir umso mehr Angst. Und genau diese Angst lässt mich schneller rennen. Ich ignoriere das Brennen in der Lunge, das Ziehen in meinen Waden und das Stechen in meinen Seiten. Diese fünf Minuten muss ich es durchziehen! Wie es ihnen wohl geht? Ich bete, dass ihnen nichts schlimmes passiert ist. "Bitte, Gott!" Ich blinzle die Tränen weg und renne durch die Drehtür direkt auf die Pforte zu. "Hier wurden zwei Jugendliche hergebracht. Can Jamil und Malik Mahir. Wo befinden sie sich?", rattere ich schnell runter. Die Frau schaut schnell und mitleidig nach, bevor sie mit einem aufmunterndem Lächeln zu mir sieht. "Auf der Unfallstation in der dritten Etage, Zimmer 14B." Ich murmele die Etagenzahl und das Zimmer einmal vor mich hin und bedanke mich, bevor ich wieder losrenne. Ich nehme wieder die Treppen und spüre einen Krampf in meiner Leiste, weswegen ich keine andere Wahl habe, als langsamer zu rennen. Hechelnd überspringe ich immer drei Treppenstufen, bevor ich die schwere Tür mit der großen drei öffne und auf die B Seite das Zimmer 14 suche. Ich renne den Gang runter und finde endlich das Zimmer. Die Tür steht offen. Can steht mit dem Rücken zu mir und lehnt seine Ellbogen gegen die Fensterbank, da er seinen Kopf auf eine Hände abgestützt hat. Wie er wohl gleich auf mich reagieren wird? Ich setze schluckend einen Schritt in das Zimmer und warte auf Cans Reaktion. Er scheint mich zu bemerken, denn er dreht sich zu mir um und sieht mich an. Als ich sein Gesicht sehe japse ich erschrocken nach Luft. Eine aufgeplatzte Lippe und eine Schnittwunde am Auge verzieren sein Gesicht. Um seinen linken Unterarm befindet sich ein Verband und erst jetzt fällt mir die Kochsalz-Infusion auf, die mit seinem rechten Arm verbunden ist. "Shana", flüstert er rau und schaut mich mit gemischten Gefühlen an. Seine Augen zeigen so viel Angst. Ich gehe langsam drei Schritte auf ihn zu bevor ich wieder renne und mich in seine Arme schmeiße. Ich kann nicht anders und verliere stumm einige Tränen. Ich drücke ihn ganz fest an mich was ihn dazu bringt noch fester zuzudrücken. Seinen schnellen Herzschlag spüre ich, genau so müsste er meinen rasenden Herzschlag spüren - wenn nicht sogar hören - müsste. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, damit er sich nicht noch mehr belasten muss, als er seinen Kopf in meine Halsbeuge legen will. Heimlich ziehe ich seinen wunderbaren Duft an, der mich etwas beruhig. "Was ist passiert?", flüstere ich brüchig und fange wieder an zu zittern. Seine Arme drücken sich fester um mich. Auch er fängt an zu zittern und krallt seine Hände in meine Seiten. "Malik wird operiert. Unfall, Unfall, Autounfall", gibt er brüchig von sich. Mein Herz zieht sich bei seiner Stimme zusammen. "Es ist alles nur meine Schuld." "Nein", flüstere ich und fahre ihn über seinen Hinterkopf. "Es ist meine Schuld", wiederholt er. "Hör auf das zu sagen", versuche ich mit fester Stimme rauszubringen, doch der Befehl kommt brüchig raus. "Was habe ich getan?" Er zittert stärker. "Beruhige dich, Can." "Shana, sag mir, was habe ich getan?", flüstert er. Ich spüre etwas kleines, nasses in meine Halsbeuge fallen. "Shana, es ist alles meine Schuld." Er weint. Er weint vor mir. Ich habe Can noch nie so gesehen, noch nie. Ich habe gedacht, dass er so verhärtet ist, dass ihn nichts und niemand zum Weinen bringen kann, doch ich habe vergessen, dass er seine Freunde wirklich liebt. "Das kann ich mir niemals verzeihen. Er wird wegen mir operiert." Er fängt unkontrolliert an zu zittern und verliert immer mehr Tränen, doch ein Schluchzen höre ich nicht. Er verliert stumm seine Tränen. "Hör auf zu weinen!", sage ich weinerlich, da ich nicht standhaft bleiben kann und mir ebenfalls die Tränen über die Wangen rollen. Ich fahre ihm durch seine Haare und halte mich an ihnen fest. "Ich habe so Angst um ihn. Er ist doch mein Bruder!" Ich schließe ganz fest meine Augen. In dieser Situation ist er so unschuldig, das komplette Gegenteil von heute morgen. Er ist ein verängstigter Junge, der Angst um seinen Freund hat. "Shana, ich will in seiner Lage sein", murmelt er von Schuld geplagt und schüttelt den Kopf. "Hör auf damit", bekomme ich schluchzend raus und ziehe sanft an seinen Haaren. Für manche erscheint unsere Situation als Widerspruch, und ja verdammt! Es ist auch ein Widerspruch. Ich habe heute zu ihm gesagt, dass ich ihn hasse, dass ich noch nie jemanden so sehr gehasst habe, wie ihn und jetzt? Jetzt liege ich in seinen Armen und weine mit ihm. Für mich kann es nur ein Zeichen Gottes sein. Schicksal. Trotz unseres Zorn gegenüber dem anderen verbindet uns was. Wir können einander nicht los lassen. "Wird es ihm wieder gut gehen?" Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen. Er hört sich so unschuldig an, so verletzlich. Er möchte nur zu seinem Freund gehen. "Es wird ihm wieder gut gehen, inshallah." Ich bin nicht wirklich die religiöseste, doch erkenne meinen Glauben an und kann das Gebet praktizieren, als beschließe ich heute für Malik zu beten. "Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er hat am Kopf geblutet", erzählt er mir zitternd. Voller Trauer schließe ich meine Augen. Dieser Tag ist so grausam! Ich gehe langsam auf meine Knie und ziehe ihn mit, da ich nicht riskieren will, dass er umfällt.

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt