Kapitel 98

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Donnerstag, 29. März

Seit mehr als einer Woche ist Can so nett, wie es nur geht, wenn man bedenkt, dass wir immer noch zerstritten sind und das nervt mich! Er soll aufhören so nett zu sein, sonst kann ich mich nicht darauf konzentrieren, ihn zu hassen. Er hält mir immer die verdammte Tür auf, hebt für mich Sachen auf und holt sogar Bücher für mich. Hallo? Das ist Can! Can, der Player, der Bad-Boy mit Aggressionen schlechthin. Man könnte ihn jetzt mit einem verliebten Jungen aus den US-Serien vergleichen. Und er redet immer so ruhig, manchmal sogar so ruhig, dass es einen selber beruhigt, da sich seine raue Stimme so verdammt sanft anhört. Er kann ja niedlicher sein, als Malik und das ist nicht gut! Er soll das Arschloch sein, welches ich kennengelernt habe, damit ich ihn in Ruhe hassen kann. Wieso ist er so verdammt nett? Langsam fange ich sogar an ein etwas schlechtes Gewissen zu bekommen, da ich immer so fies antworte und er immer noch so nett bleibt. Aber ich darf nicht vergessen, dass er daran Schuld ist. Aber er versucht mir bei wirklich jeder Möglichkeit zu helfen, mir zuvorzukommen und das ist zu süß, da es sowas von gar nicht zu ihm passt. Und dann schaut er mich immer so verdammt reuevoll und entschuldigend oder lächelnd an. Manchmal hatte ich das Verlangen ihn zu erdrücken, durch eine Umarmung, doch dann hat mein Nachtragen mich wieder an seine Fehler erinnert. Ich darf ihm nicht so schnell verzeihen. Zugegeben: Ich vermisse ab und zu die Neckereien und normalen Konversationen, auch, wenn sie nicht wirklich lange her sind. Es war einfach eine Genugtuung, falls man den anderen durch seine Neckereien zum Schweigen gebracht hat. Es war immer ein kleiner Sieg. "Shana", reißt meine Spanischlehrerin mich aus meinem Gedanken. Heimlich schiebt Viyan mir die Lösung zu. "Ähm, Lucas fue a comer con Isabella después del colegio." Sie nickt mir zu uns fährt dann mit dem Unterricht fort. Glück gehabt. Jetzt kann ich dank diesem Jungen nicht einmal mehr aufpassen. Ich könnte ihm auch einfach verzeihen. Nein. Er hat sich noch nicht einmal entschuldigt. Zwar erkennt man in seinen Augen, dass er es bereut, aber solange er seinen Stolz nicht beiseite legen kann und einsieht, dass das, was er gemacht hat einfach nur mehr als falsch war, kann ich ihm auch nicht mehr weiter helfen.

In der Pause schließe ich kurz meine Augen, da langsam der Frühling kommt und die Sonne mich etwas auftauen lässt. Außerdem hängt Elif nicht mehr mit uns ab, da sie bei ihren Freundinnen sein möchte. Besser für mich, nein: besser für uns alle. "Shana?", stupst mich Ramazan flüsternd an. "Ja?", frage ich schmunzelnd, als er mit ein gefaltetes Blatt und einen Stift gibt. Ich lache wegen der Geste, die mich an die alten Zeiten erinnert und öffne den Zettel.

Liebe Shana,
ich möchte dich auf meinen Geburtstag einladen. Du hast drei Felder zum Ausfüllen da. Bitte kreuze eins an:

Ja []
Ja []
Ja []

PS: Wenn du nicht kommst, dann hole ich dich persönlich ab!

Mit freundlichen Grüßen

Ramazan

Ich lache leise und kreuze dann eins der Jas an, bevor ich es falte und es Ramazan wiedergebe, der so tut, als ob er von nichts weiß. "Für mich? Was steht denn da bloß drin?", schmunzelt er und öffnet das Blatt, woraufhin er überrascht einatmet. "Was willst du zum Geburtstag haben?", frage ich. "Das Angebot." Er zwinkert mir zu und kriegt im nächsten Moment einen Schlag auf seinen Oberarm zu spüren. "Mensch! Immer so brutal." Er schnalzt dreimal mit der Zunge und schüttelt den Kopf. "Hab meinen Geschichtstest zurückbekommen und die einzige Eins geschrieben", gibt Viyan an, die mit Saliha ins Lehrerzimmer gegangen ist, um ihren Test zu holen. Wir reden alle noch etwas über schulische Angelegenheiten und laufen dann zur Sporthalle. Mal sehen, ob mir Elif wieder so schief ankommt. Dieses Mal ist Herr Jakubeck schon in der Halle, weswegen wir nicht warten müssen und direkt reinlaufen können. Ich ziehe meinen Pullover aus und laufe, nachdem ich mein T-Shirt mit etwas Parfüm eingesprüht habe, in die Halle. "Ihr könnt euch Gymnastikbälle aus dem Keller holen", informiert unser Sportlehrer uns, woraufhin viele nach unten stürmen und sich jeweils einen Gymnastikball holen. Ich warte, bis die Meisten aus dem Keller hochkommen und stehe dann auf, um in den Keller zugehen, was ich dann doch nicht mehr tun muss, da Can - wer hätte es gedacht? - mir einen Gymnastikball mitgebracht hat. "Ich kann mir auch selber einen holen", informiere ich ihn mit einer leicht zynischen Stimme. Ich will an ihm vorbei, doch er stellt sich mir in den Weg. Ich seufze und gehe auf die andere Seite, doch da stellt sich mir Can wieder in den Weg. "Du nervst." Er antwortet nicht, sondern schaut mich einfach nur an, was ich ihm aber nicht nachtue und meinen Blick deswegen auf seine breite Brust senke. Die wird ja auch immer größer. Ich seufze und drehe mich um, was sich als Fehler entpuppt, denn Can packt mich und trägt mich in den kleinen Gymnastikraum, der mit der Sporthalle verbunden ist und von Ramazan bewacht wird. "Ich bringe dich um!", rufe ich, bevor die Tür zu gemacht wird und ich losgelassen werde. Ich renne schnell zur anderen Tür, die nicht aufgeht. "Malik!", brülle ich und schlage gegen die Tür, doch kriege keine Antwort. "Lass mich hier raus!", zische ich Can an, den ich aber nicht anschaue. "Ich weiß nicht, wen du meinst." Er will, dass ich seinen Namen ausspreche, aber nicht mit mir! Ich setze mich auf den Boden und lehne meinen Rücken gegen die Wand. Das Schweigen kann beginnen. Can läuft auf mich zu und setzt sich neben mich, weswegen ich aufstehe und mich woanders hinsetze, woraufhin er sich wieder zu mir setzt. Das Ganze geht noch viermal so weiter, bis ich keine Lust mehr habe und toleriere, dass er sich neben mich setzen möchte. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ihn nicht ignoriere. Leider kann ich seine Präsenz und vor allem seinen Duft nicht ignorieren, der so verdammt gut riecht. Ich kann ihn nirgendswo einordnen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass er verdammt gut riecht und das jedes Mal. Ich sollte mir mal seine Parfüms klauen oder wie ich es gerne sage: Ausleihen und nie wieder zurückbringen. "Seid ihr fertig?", fragt Ramazan, als er die Tür einen kleinen Spat weit öffnet. "Ja!", rufe ich direkt, doch statt die Tür weit zu öffnen, schließt er sie wieder - Esel. "Was willst du?", frage ich ihn wieder, doch kriege keine Antwort. Ich will weg. "Nur mal so: So werde ich dir nicht verzeihen. Was du gemacht hast, was inakzeptabel und... und verletzend", sage ich und schlucke. "Shana, ich-," "Du hast dich vergessen, okay, aber trotzdem kann ich es nicht verstehen, dass du ihr mehr glauben schenkst, als mir", flüstere ich schon fast und sehe aus dem Augenwinkel, dass sich Can zu mir dreht. "Can, du weißt gar nicht, wie fremd du mir vorkamst." Ich beiße mir kurz auf die Lippe und höre ihn schlucken. "Sei ehrlich, Can." Ich schaue ihn kurz an und senke dann wieder den Blick. Ich will nicht in seine schuldbewussten Augen schauen, die ihn so kindlich erscheinen lassen. "Wolltest du mich verletzen, also schlag-," "Sprich es nicht aus!", zischt er plötzlich, weswegen ich zusammenzucke. Ich ziehe meine Beine an und zupfe die Fussel an meinem rechten Knie ab. Ich höre, wie er feste ausatmet und mit der Faust auf den Boden schlägt. "Nein", presst er hervor. "Niemals, Shana. Niemals würde ich meine Hand gegen dich erheben. Nenn mich einen aggressiven Psychopath, aber dir würde ich niemals ein Haar krümmen", knurrt er. Ich nicke nur kaum vernehmbar. Seine Hand umfasst sanft, schon fast vorsichtig mein Kinn, was die Lymphknoten unter meinen Ohren zum Kribbeln bringt. "Denkst du so von mir?", fragt er mich und schaut mir intensiv in die Augen. Man könnte denken, er versucht meine Gedanken zu lesen. Tue ich das? "Ich weiß es nicht", wispere ich wahrheitsgemäß. "Denk bitte nicht so", flüstert er und fährt mit seinem Daumen zart über meine Wange, während er seine Stirn gegen meine legt. Für einige Sekunden genieße ich diesen Moment, diese Harmonie, doch löse mich wieder von ihm, was ihn etwas enttäuscht. Ich fahre mir schüchtern durch meine Haare und danach über meine rechte Wange hinunter zu meinem Schlüsselbein, bevor ich dann anfange mit meinen Nägeln zu spielen.

Es kehrt Stille ein. Eine angespannte Stille, die man brechen und die Probleme, die diese Spannung verursachen, lösen sollte, doch stattdessen sind wir einfach ruhig, still, stumm. Ich will gerade nichts Sehnlicheres, als Frieden zwischen Can und mir. Aber er tut mir nicht gut. Wir werden uns jedes Mal streiten, wir können uns einfach nur für einen Moment verstehen, das war's dann auch. Es können jederzeit falsche Gedanken und Gefühle aufkommen und genau das will ich nicht. Davor fürchte ich mich sogar. Ich will ihm nicht verfallen, gar nicht in Versuchung kommen. "Weißt du was?" Ich schaue ihn an, damit ich seine Reaktion sehen kann. Er sieht mich mit einem versteckt Erwartungsvollen Blick an, während ich tief einatme. "Es wäre das Beste, wenn wir auf Distanz gehen", bringe ich mit einem Atemzug heraus und sehe, wie seine Pupillen, die gerade noch sehr groß waren, sich gravierend verkleinern. Keine positive Resonanz, was habe ich auch erwartet? Er schnaubt und dreht sich zur Seite. Er ist enttäuscht. Das tut mir irgendwie leid. "Willst du nicht sagen?", frage ich nervös und schlucke. Mein Herz schlägt schneller und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich irgendetwas in meinem Brustkorb, bis hin zur Luftröhre aufstaut. Er steht, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf und klopft an der Tür, die von Ramazan bewacht wird. "Mach auf, es ist geklärt", befiehlt er kalt, sehr kalt. "Okay", flüstere ich. Manchmal ist das Schweigen, die schlimmste Antwort, die man kriegen kann. Genau jetzt ist es der Fall. Er schüttelt nur den Kopf, als Ramazan ihn etwas fragt und läuft in einer verkrampften Haltung hoch. Ramazan und Malik kommen in die kleine Halle und setzt sich vor mich hin. "Ihr habt euch nicht vertragen?", fragt Ramazan ruhig und lächelt aufmunternd. Ich presse die Lippen aufeinander und schüttele den Kopf. Wenn ich an das denke, was ich gerade gesagt habe, kommen mir die Tränen hoch, die ich wegblinzele. Ich will und werde deswegen nicht weinen! Ich wollte es so und ich darf es auch nicht bereuen. "Es ist vermutlich das Beste", flüstere ich. "Manchmal ist das, was man schlecht findet, das Gute", kommt es nun von Malik, der mich mit einem warmen lächeln anschaut. Ich schlucke und beiße mir kurz auf die Unterlippe, während ich gedankenverloren auf den Boden schaue. "Nein. Wir haben uns zu oft gestritten. Vor allem die letzten Male waren sehr heftig. Es war glaube ich das Beste." Ich seufze und stehe auf. "Sag mir, was ich dir zum Geburtstag kaufen kann." Ohne eine Antwort zu erwarten, laufe ich aus der kleinen Halle und ziehe mich um.

"Wie kommst du darauf?", fragt mich Herr Markus in der letzten Stunde. "Wenn Michael es ernst meint, dann wird er auch um sie kämpfen, ganz einfach", gebe ich etwas kühl von mir, da mir die Sache immer noch nicht aus dem Kopf geht. "Alle beeinflussen Veronica so stark, dass sie selbst nicht mehr weiß, was richtig oder was falsch ist. Deswegen will Michael ihr das Gegenteil zeigen", füge ich hinzu und fahre mir durch meine Haare. "Vielleicht sollte Veronica anfangen zu wissen, dass Michael bei ihr anders denkt und anders fühlt", kommt es von Can in einem rauen, kühlen und distanzierten Ton, der mich frösteln lässt. "Wenn Veronica ihre Mauer nicht fallen lässt, wie soll Michael an sie herankommen?", fragt Can in dieser distanzierten Stimmlage, die mich schlucken lässt.

"Erklimme sie oder zerstöre sie."

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt