Freitag, 24. Januar
Nach dem Vorfall sind fast fünf Monate vergangen, an denen ich mich nicht lange gebunden war, denn die Prüfungen waren im vollen Gange. Selbst in den Herbstferien habe ich gelernt. Noch nie habe ich in den Ferien gelernt, aber was sein muss, muss sein. Ich muss zugeben, dass Biologie gar nicht so viel ist, wie alle immer behaupten. Es ist echt angenehm, trotzdem tut mein Rücken vom Lernen weh. Deshalb liege ich in meinem Bett und gehe noch einmal das Gelernte für die Biologieklausur durch. Hätte ich doch bloß wie Lexie Grey ein fotografisches Gedächtnis. Ich würde dafür töten. Bald kriegen wir die Halbjahreszeugnisse. Wie schnell die Zeit doch vergeht. In diesen vier Monaten habe ich nichts mehr von Cihan gehört. Auch Can hat sich zurückgezogen. Es ist vorbei, endlich! Mit Ramazan verstehe ich mich immer mehr und auch Malik scheint mir ein herzensguter Junge zu sein. Can ist aber irgendwie noch schlimmer geworden als zuvor. Er hat wirklich immer eine Neue – oder mir ist es einfach davor nie so richtig aufgefallen. Aber wieso hört er nicht auf, mich anzugucken? Es stört mich. Aleyna hat sich sogar bei mir entschuldigt. Das hätte ich nie gedacht, aber trotzdem bin ich vorsichtig. Ich vertraue ihr nicht. Wer weiß? Vielleicht macht sie das extra, um mich auszunutzen? Als ich meinen Freundinnen von der Sache mit Cihan erzählt habe, sind sie wirklich ausgerastet, dabei saß der Schock auch ziemlich tief. Bei mir saß der Schock auch anfangs tief, aber ich komme klar. Ändern kann ich auch nichts. Ich hab dir gesagt, halt dich fern von ihr!
Immer wieder kriege ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. Es hat kein wirkliches Trauma hinterlassen, aber trotzdem werde ich es nie vergessen. Wie denn auch? Diese Situation erschien mir so surreal. Ich wusste nicht, was zu tun ist. Dieses Gefühl konnte man mit der Wirkung von Betäubungsmitteln vergleichen. Seit vier Monaten frage ich mich, was passiert wäre, wenn Can nicht gebrüllt hätte, wenn Cihan sich nicht ablenken lassen hätte und was passiert wäre, wenn ich nicht laut mit Cihan diskutiert hätte. Hätten sie mich dann gehört? Haben die Jungs mich überhaupt gehört? Was wäre mit Cihan passiert, wenn Malik und Ramazan Can nicht weggezogen hätten? So viele Fragen, doch die Antworten weiß nur Gott. Wieder bekomme ich eine Gänsehaut. Genug von denen, lern lieber für die Klausur! "Shana? Kommst du kurz mit mir zum Kiosk? Ich muss mir Zigaretten kaufen", fragt mich mein Cousin, der für ein paar Tage bei uns ist. "Ja, kann ich machen, aber gehen wir danach ein bisschen spazieren?" Wir haben 00:13 Uhr und ich liebe nichts mehr, als nachts spazieren zu gehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich um diese Uhrzeit nicht raus darf oder weil es einfach harmonisch ist. Ich weiß es nicht. "Ja machen wir. Wäre dein Bruder da, hätte ich ihn gezwungen uns irgendwo hinzufahren", grinst er. Mein Bruder arbeitet, aber nachts treibt er sich gerne in Shisha-Bars herum, vor allem nach der Arbeit.
Ich ziehe meine Jacke an, lasse meine stiefmütterlich behandelte Brille auf und ziehe meine Schuhe an. Trotz meiner Kurzsichtigkeit kann ich ohne Brille gut klarkommen. Ich trage sie so selten, weil ich finde, dass sie mir nicht steht. Wir laufen nach unten, albern dabei ein bisschen rum. "Und wie läuft die Oberstufe?", fragt er. "Es ist zurzeit etwas anstrengend. Am Montag schreibe ich meine Bio-Klausur. Das wird bestimmt eine gute Note." "Hoffentlich und dann, wenn du eine Ärztin bist, prahle ich damit. Jeder soll wiesen, dass meine Cousine eine Ärztin ist." Er stößt mir mit seinen Ellbogen neckisch in die Seite, was mich grinsen lässt. Wir treten in den Kiosk ein und sofort weiß der Kioskinhaber Bescheid, was mein Cousin will. "Nimm dir was." Mein Cousin nickt signalisierend zu den ganzen Süßigkeiten. "Nein, ich will nichts." "Doch, du willst und jetzt nimmst was!", befiehlt er. "Aber ich will nichts, ehrlich", versuche ich ihn zu überzeugen. Er seufzt. "Shana, solange du dir nichts ausgesucht hast, verlassen wir den Kiosk nicht." Nun seufze ich und verdrehe die Augen. Ich nehme mir zwei Center Shocks und lege sie auf den Tresen. "Zufrieden?" Er runzelt die Stirn. "Nur das?", kommt es skeptisch von ihm. "Ahmed, ich schlage dich gleich!" Die Diskussion endet mit seinem Lachen und seinen abwehrend erhobenen Händen. Er holt jeden Tag immer etwas zu essen aus der Stadt mit, das reicht mir schon. Bei unserem Spaziergang erzählt er mir seine alten Jugendgeschichten, die ich immer so gerne höre. "Dann haben Serdar und ich deinen Bruder genommen und versucht, ihn mit Schläuchen an den Baum zu binden." Wir brechen in Gelächter aus. "Ich erinnere mich. Einmal hat es Serdar doch auch mit Ibo gemacht. Da war ich im Garten und habe zugeschaut." "Serdar ist ein Teufel." Und schon wieder fangen wir an zu lachen. Es tut gut, mal an etwas anderes zudenken.
Während wir runterlaufen, sehe ich einen Jungen, der bei diesem Wetter wirklich nur in einer Jogginghose und einem T-Shirt herumläuft. Wir haben Januar. Zwar gibt es in Nordrhein-Westfahlen kaum noch Schnee, aber trotzdem ist es kalt. Ich schaue unauffällig zu ihm. Gute Oberarme hat er. Nett, nett. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich sein Gesicht. Gelbe Augen, Can! Selbst im schwachen Licht der Lampen sind sie zuerkennen. Seine rabenschwarzen Haare lassen ihn gefährlich erscheinen. Auch er scheint mich erkannt zu haben, denn seine Haltung verändert sich. Er wirkt nicht sonderlich begeistert, mich hier zu treffen. Was hat er jetzt schon wieder? Ich mache doch nichts! Wieso guckt er jetzt so wütend? Can muss wirklich Probleme haben, dass er jedes Mal wütend wird, wenn er mich sieht. Ich lasse mich nicht weiter von ihm beirren und laufe mit meinem Cousin weiter, der mir weitere Geschichten aus seiner Jugend erzählt. "Ahmed, lauf doch nicht so schnell!" Er ist locker drei Meter entfernt von mir. Jetzt ist es gar nicht mehr so kalt, aber das kommt vom Laufen. Heute scheint der Mond so schön, so hell. Davon sollte ich ein Foto machen und entscheide mich kurzerhand, es auch Snapchat mit der Uhrzeit von 00:28 Uhr zu teilen. Man sieht nur leicht den Kopf meines Cousins in der Ecke, aber das sollte niemanden auffallen. Um kurz vor eins sind wir auch wieder zu Hause. Ich gehe in mein Zimmer, esse einen Center Shock, gucke mir nebenbei an, wer sich meine Snapchatstory angeguckt hat und antworte dann allen zurück, bis mein Herz aussetzt. Can? Wie kann er mir antworten? Stimmt. Ich habe mein Snapchat so eingestellt, dass jeder mir snappen und sich jeder meine Geschichte angucken kann, weil ich zu faul war, jeden anzunehmen, der mir eine Anfrage schickt. Ich wusste ja nicht, dass es mir irgendwann mal zum Verhängnis wird. Ich gehe auf seine Nachricht. Es ist das Foto, welches ich in meiner Geschichte gepostet habe.
'Da Cihan weg ist, hast du dir direkt einen neuen geholt? Und dann noch um diese Uhrzeit rausgehen, damit euch keiner sieht?' Was zum Teufel? Will der mich verarschen? Das ist mein Cousin! Und selbst wenn: was hat ihn das zu interessieren?
'Merk dir: Ich bin nicht so wie du, der sich jeden Tag eine Neue klärt. Außerdem ist es so lächerlich, mich deswegen anzuschreiben. In der Schule sprechen wir nicht miteinander, also wieso interessiert es dich jetzt, mit wem und wann ich draußen bin? Das mit Cihan war vor fast fünf Monaten. "Direkt" meinst du?' Was bildet sich dieser Junge nur ein? Denkt er, ich bin wie er? Nie werde ich so sein. Wie kann er nur sowas denken? Mit was für einer Arroganz er mit entgegentritt, pah!
'Lenk ja nicht vom Thema ab! Wie man sieht, bist du nicht so ein vernünftiges Mädchen. Da hatte ich recht. Komisch, dass du nicht mit mir gesehen werden wolltest, warum? Weil uns dann jeder sieht? Praktisch, im Dunkeln eine Beziehung zu führen.' Oh mein Gott! Er denkt, mein Cousin ist mein Freund! Ich fange an zu lachen. Das kann nicht sein Ernst sein. Warte mal. Er denkt, ich bin nicht vernünftig. Er ist doch die Hure! Er soll abwarten. Prompt schreibe ich ihm zurück.
'Wie peinlich! Der Grund, warum ich nicht mit dir gesehen werden wollte war, weil du derjenige bist, der unvernünftig ist, nicht ich! Du bist derjenige, der herumhurt, jeden Tag eine Neue hat, nicht ich. Selbst wenn ich auch nur einmal eine Beziehung hätte, dann dürftest du da deinen Mund nicht einmal aufmachen, okay? Und außerdem: Bist du irgendwie eifersüchtig?' Der hat gesessen, und das mit dem eifersüchtig sein ist nur da, damit ich ihm den Stoß in die Klippe geben kann. Komm schon Can, antworte. Er wird bestimmt nur auf den Teil, mit dem eifersüchtig sein eingehen, denn den Rest kann er nicht dementieren. Es ist nämlich die Wahrheit. Ich sperre mein Handy, aber entsperre es sofort, als Can zurückschreibt. Jetzt geht es los.
'Eifersüchtig? Auf was? Dass du mit deinem Freund draußen warst? Das interessiert mich nicht, Kleines.' Hab doch gesagt, dass er nur auf den Teil eingehen wird. Jetzt kommt der Gnadenstoß.
'Nein, nicht weil ich mit meinem "Freund" draußen war, sondern weil ich mit meinem COUSIN spazieren war. Und wenn es dich nicht interessieren würde, hättest du mich nicht angeschrieben, Kleiner.' Siegessicher lege ich mein Handy weg und lege mich hin.
Jetzt kann ich in Ruhe schlafen. Ich weiß, dass ich ihn damit mundtot gemacht habe. Idiot. Angeblich nicht eifersüchtig, dass ich nicht lache! Aber warum überhaupt sollte er eifersüchtig sein? Wir mögen uns doch nicht, das hat sich doch gerade eben wieder gezeigt. Wozu die Aufregung? Was war überhaupt seine Intention? Seine Aufregung war total unnötig und peinlich. Cans Verhalten ist unnötig und peinlich. Can ist unnötig und peinlich. Ich verstehe diesen Jungen nicht und würde sehr gerne seine Gedanken lesen wollen, obwohl er mich nicht interessiert. Vielleicht kriege ich so eine Erklärung für sein so suspektes Verhalten. Antworten tut er mir ja nicht. Er hat die Nachricht ohne Weiteres gelesen. Hm, besser so. Hoffentlich war es ihm eine Lehre. Er soll nicht denken, dass er mit mir ein leichtes Spiel hat und vor allem soll er nicht denken, dass er mich so einfach durchschauen und verurteilen kann.
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Arroganz
RomanceShana ist ein temperamentvolles, 16-jähriges Mädchen, das gerade dabei ist, die Oberstufe zu besuchen und ihr Abitur zu absolvieren. Schon an ihrem ersten Tag trifft sie auf den, ihr noch unbekannten, 17-jährigen Can. Seine chauvinistische Art lässt...