Kapitel 95

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Freitag, 9. März

Seit diesem Vorfall sind exakt ein Monat und acht Tage vergangen. Seit genau fünf Wochen und einem Tag ignoriere ich Can vollkommen. Weder anschauen, noch auf ihn reagieren tue ich. Nachdem ich weggelaufen bin, hat er versucht mich zu erreichen, doch ich habe ihn immer weggedrückt. Seitdem hasse ich auch den Donnerstag sehr. Ich will seine Anwesenheit einfach nicht spüren und das genaue Gegenteil geschieht bei mir. Seit diesem verdammten Donnerstag kreisen meine Gedanken nur noch um die Auseinandersetzung auf dem Parkplatz. Wie aggressiv Can doch war und er hat es nicht einmal bemerkt. Was wohl passiert wäre, wenn ich nicht gesagt hätte, dass er mir Angst gemacht hat? Dass er mir wehgetan hat? Was hätte dieser Junge bloß nur mit mir gemacht? Wie kann es überhaupt sein, dass er es nicht bemerkt hat? Das erscheint mir suspekt. Ich kann es mir nicht erklären. Ich will eigentlich gar nicht aufstehen, da ich so gemütlich im Bett liege. Der eigentliche Grund ist, dass die ersten beiden ausgefallen sind und die letzten beiden ebenfalls ausfallen, deswegen sehe ich keinen Sinn heute hinzugehen, vor allem, da ich Can sehen werde. Scheiß drauf! Scheiß auf ihn!, kommt es von meinem Unterbewusst sein, weswegen ich seufzend aufstehe und die Schultern straffe. Ich werde diese Sache einfach vergessen und kalt zu Can sein. Er soll nicht hoffen, dass mich diese Sache herunterzieht, denn das ist nicht der Fall! Mit etwas Motivation ziehe ich mir meine schwarze Jogginghose an und ein schwarzes T-Shirt. Über das T-Shirt ziehe ich noch einen grauen Pullover an, bevor ich in die Küche zu meinem Vater gehe und etwas esse. "Hast du verschlafen?", fragt er mich überrascht. "Nein, ich habe die ersten beiden frei", informiere ich ihn. "Ich kann dich gleich fahren. Hier iss das." Mein Vater nimmt ein Stück Fladenbrot und legt einige Scheiben scharf gewürzte Geflügelscheiben hinein. Ich bedanke mich und kaue gedankenverloren auf dem Brot herum. "Wie ist die Oberstufe?", fragt er mich. "Ganz gut, Mathe geht auch so, aber sonst alles gut." Er nickt und wischt sich den Mund ab. "Und wo möchtest du dich dann anmelden für das Studium?" Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. "Weiß ich nicht", antworte ich wahrheitsgemäß und erhebe mich, um mir die Zähne zu putzen, bevor ich mit ihm zum Auto zu runtergehe. Die fünfminütige Fährt vergeht Still, aber angenehm, weswegen ich entspannt aus dem Auto steige und höre, wie mein Vater vom Schulparkplatz fährt. Kurz danach höre ich, wie ein anderes Auto parkt und weiß, dass es Can ist. Ich spüre es einfach. "Shana? Hier, meine Habibti!", ruft Ramazan, weswegen ich mich schmunzelnd umdrehe und auf das Auto zulaufe, ohne Can zu beachten. Ich umarme Ramazan und warte auf Malik, der aber anscheinend nicht da ist. Stattdessen höre ich nur, wie Can aussteigt. Blende ihn einfach aus. "Malik ist bei seiner letzten Untersuchung", informiert mich Ramazan lächelnd, woraufhin ich verstehend nicke und mit ihm und Can zum Deutschraum laufe. Ich spüre ab und zu Cans Blicke auf meinem Rücken, da ich nicht neben ihm laufen wollte und deswegen etwas schneller gehe. Komischerweise spüre ich eine regelmäßige Gänsehaut an meinen Armen und rieche sein Parfüm deutlich intensiver, als sonst. Das liegt bestimmt an seiner Größe. Ich lasse mich nicht weiter beirren und laufe einfach weiter. Die Stimmung ist angespannt, selbst Ramazan redet nicht. Wieso redet Ramazan überhaupt nicht? Bestimmt hat auch er unseren Streit mitbekommen und redet deswegen nicht. Na ja, egal. Beim Herrn Markus angekommen, begrüßen wir ihn und setzen uns dann schließlich. Ich erwische mich, wie ich Can beim ausziehen seiner Jacke beobachte und bemerke, dass er breiter und etwas muskulöser geworden ist. "Also, meine Lieben. Als Hausaufgabe musstet ihr Seite vierundvierzig lesen und Stellungnahme zum Verhalten der Protagonisten nehmen." Sofort melde ich mich und leider Gottes auch Can. "Veronica hatte nicht das Recht so zu handeln, da sie nichts mit dem Thema zu tun hatte", kommt es von Can, dem ich nicht zustimme. "Es war eher Michaels Schuld, da er so übertrieben reagiert hat", gebe ich leicht patzig von mir und erdolche Can mit meinen Blicken, was unserem Lehrer nicht entwischt. "Dann hätte Veronica mal den Mund halten sollen", bringt er mit Druck hervor. Warte, meint er damit mich? Er kann nur mich und den Vorfall meinen. Natürlich! Deswegen kam mir das Kapitel so suspekt vor. Schicksal! "Wie wäre es, wenn Michael ein Anti-Aggressivitäts-Training vollzieht und sich so unter Kontrolle hat, bei der nächsten Auseinandersetzung?", gifte ich ihn an, auch wenn er meinen Gesichtsausdruck nicht sieht. Dreh dich um und schau mir ins Gesicht! Gesagt, getan. Can dreht sich langsam mit arrogantem Blick zu mir und schaut mich leicht wütend an, woraufhin ich ihm ein gefälschtes Lachen schenke. "Michael würde nicht so ausrasten, wenn Veronica ihr vorlautes Maul halten würde." Ich gebe einen empörten Laut von mir. Das lasse ich nicht auf mir sitzen! "Michael ist von Natur aus ein aggressiver Typ, das hat nichts mit Veronicas Emanzipation zu tun. Es war total unangebracht, Veronica die Schuld, wegen der Sache zugeben, obwohl es die Schuld der hinterhältigen Freunde war!", sage ich und fuchtele herum. "Die Freunde waren betroffen, Veronica aber nicht, da Veronica es angestiftet hat", faucht er, weswegen ich kurz auflache. "Nein, es war Christophers Schuld, da er etwas gegen Veronica hat und Veronica eben die Wahrheit kennt und sich zur Wehr setzt, was sie auch gut gemacht hat und was ich ebenfalls tun würde", gebe ich mit viel Druck von mir, was Cans Kiefermuskel herausstechen lässt. Hoffentlich bricht sein Kiefer. "Vielleicht hat Veronica es getan, weil sie eifersüchtig ist." Wieder gebe ich einen empörten Laut von mir, was für die anderen bestimmt verwirrend erscheint. "Veronica ist die Frau, die keiner Männer dieser Sorte an sich ran lässt. Wieso sollte ausgerechnet sie eifersüchtig sein?" Ich verschränke meine Arme vor meiner Brust und schaue ihn arrogant an. Ich und eifersüchtig? Vielleicht hundert Jahre nach meinem Tod irgendwann. "Weil sie Michaels Art heimlich nicht widerstehen kann", gibt er nun provokant lächelnd von sich und zieht die Braue hoch, als er sich mit seinen Armen auf meinen Tisch lehnt. "Ich glaube da verwechselst du was." Er schüttelt den Kopf und schnalzt einmal mit der Zunge, bevor er sein Buch nimmt und eine Seite aufschlägt. "Seite dreiundfünfzig. 'Nicht richtig blick' ich durch, da mich unbekanntes Tun hindert. Gar ein Duft, der mir allbekannt ist. Der Duft intensivste, den ich je erriechen könne.' Ich glaube, da muss man nicht intelligent sein, um zu bemerken, dass Veronica etwas für Michael übrig hat." Ich finde es äußerst amüsant, dass wir eigentlich über uns beide reden, nur mit den Namen der Charaktere des Buches. "Ach ist das so? Und was ist mit der Stelle, wo Michael seine Augen nicht von ihr nehmen konnte und schon fast vor Eifersucht geplatzt ist, als ihr Exfreund kam?" Ich kneife die Augen zynisch zusammen, was er mir nachmacht, da er sofort an Cihan denken muss. "Pure Einbildung", gibt er abwertend von sich, was mich wieder auflachen lässt. "Einbildung also? Es ist also Einbildung, dass Michael von Anfang an wusste, dass sie anders war? Es ist also Einbildung, dass er Veronica hinterhergerannt ist und es ist Einbildung, dass neben seinem Bruder nur Veronica es schafft, ihn zu beruhigen?", gebe ich etwas lauter von mir und schaue Can vielsagend an, der sich mit dem Daumen über seine Knöchel fährt. "Sag mir es mir, Can. Ist das Einbildung oder bist du nur zu stur, um zu sehen, dass diese zwei Menschen etwas verbindet, was sehr neu für die beiden ist und selbst die engsten Bezugspartner überrascht?" Ich schaue ihn abwartend an und klimpere mit meinen Nägeln auf den laminierten Holztisch herum. In dem Kurs hören alle gespannt zu. Selbst Aleyna und Elif sind still. Auch Can scheint zu überlegen. Ja, denk ruhig nach. Ich habe recht und du weißt es. "Sie werden aber nicht weiterkommen, wenn Veronica ihn immer reizt und provoziert." Als ob du besser bist. "Was einen nicht tötet, macht einen doch umso stärker, also wird die Beziehung zueinander doch somit auch stärker. Im Laufe des Buches kamen sie sich ja auch näher, vor allem in bestimmten Situationen", gebe ich vielsagend von mir. "Die Frage ist aber, ob Veronica das Ganze will oder ob sie gegen ihre Gefühle kämpft im laufe der Zeit", gebe ich nun neutral von mir und tippe auf das Buch, damit er nicht denkt, dass ich mich eigentlich damit meine. Er zieht etwas überrascht die Augenbraue hoch und lehnt sich zurück. "Alles eine Frage der Zeit, des Stolzes und der Sturheit", murmelt er und dreht sich um. Herr Markus fährt beeindruckt mit dem Unterricht fort, woraufhin wir in Stillarbeit für diese zwei Stunden arbeiten müssen.

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt