⌜Nate⌝

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 A L I C I A 

Verwirrt blinzelte ich mehrmals und ich realisierte nur schwer, was der Junge gerade gesagt hatte. „W-Was?", fragte ich und all die Worte, die ich mir im Kopf zurecht gelegt hatte, waren wie weggeweht. Langsam ließ ich meine Hand mit dem Mathebuch sinken.
Der Junge seufzte, fuhr sich einmal durch seine ungemachten Haare und blickte dann über seine Schulter.

„Hör mal, willst du reinkommen? Ich will nicht, dass meine Mom dies hier mitbekommt. Ich bin übrigens Nate, Fynns Bruder. Deswegen bist du doch sicherlich hier, oder? Wegen Fynn?"

Langsam nickte ich, schüttelte dann aber schnell den Kopf, als mir bewusst wurde, dass er vielleicht denken könnte, ich habe ihn gekannt. Dann jedoch fiel mein Blick auf das Mathebuch, in dem Fynns Name stand und stockend verwandelte sich das Schütteln wieder in ein Nicken.

„Ja, nein, irgendwie schon... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll...", stotterte ich und fuhr mir aufgewühlt durch meine Haare. Nate musterte mich und nickte dann selbst leicht.
„Es ist okay, ich weiß, dass du ihn nicht gekannt hast..."
„Woher?", fragte ich leicht erstaunt.
Ein leichtes Lächeln machte sich auf Nates markantem Gesicht aus und er zuckte die Schultern. „Seit er dich das erste Mal gesehen hatte, war er fasziniert von dir. Fynn ist..." Er stockte, schüttelte den Kopf und setzte neu an: „Fynn war kein Loser, bevor du das jetzt denkst, aber wenn ihn etwas fasziniert hatte, wollte er es lösen und du warst sein Langzeitprojekt. Er hat täglich von dir geredet, aber nie mit dir. Verstehst du nun, warum ich mir vorstellen kann, warum du hier bist?"

Mein Herz pochte unglaublich schnell und es waren zu viele Informationen auf einmal, die ich nicht verstehen konnte. Da war ein Junge, der mich schon immer faszinierend gefunden hatte? Der jeden Tag über mich geredet hatte?
Der nun tot war?
Und wegen ihm ich nun hier war?

„Nate?", rief eine leise Stimme aus einem Zimmer am Ende des Flures, in dem Fynns Bruder stand. Dieser drehte sich sofort zu der Stimme um und rief zurück: „Mom, ich komme gleich, okay?"
Dann wendete er sich wieder mir zu und seine grünen Augen bohrten sich in meine.
„Bitte, mein kleiner Bruder ist tot und ich muss wissen, warum er dich hier her geholt hat. Bitte warte."

Ich wusste nicht genau, ob es schlussendlich seine Worte oder seine Augen, die mich flehentlich und so voller Schmerz ansahen, waren, die mich mit einem einzigen Schritt die Türschwelle überschreiten ließen.
Nate schloss die Tür und zeigte mir mit einem Blick, dass ich hier warten sollte, während er zu seiner Mom ging. Ich hörte sie leise mit einander reden, doch ich versuchte nicht genau hinzuhören, sodass ich mich gegen das Treppengeländer stützte und die Fotos betrachtete, die entlang der Treppe an der Wand hingen.

Bitte, mein kleiner Bruder ist tot und ich muss wissen, warum er dich hier her geholt hat.

Ich schluckte und schüttelte meinen Kopf, um dieses Echo aus meinem Kopf zu bekommen. Fynn hatte mich nicht ‚hier her geholt', wie sollte das denn auch gehen?
Mein Blick schweifte von Bildern von einem Hund zu einem, das zwei Jungs im Teenageralter zeigten und ich stockte.
Langsam trat ich näher heran, obwohl ich nicht genau wusste, ob ich mir das Foto wirklich genauer ansehen wollte.

Die Jungen sahen so unfassbar glücklich aus. Sie schienen beinahe gleich alt und standen Arm in Arm an einer Promenade, jeweils ein Eis in der Hand und lachten in die Kamera. Beide hatten die gleichen intensiv grünen Augen, doch während ich Nate in den Jungen, der ein Ticken größer und älter zu sein schien, wiedererkannte, kam mir der Junge mit dem gestreiften Tshirt nicht im geringsten bekannt vor. Ich seufzte leise auf und schloss meine Augen.

Parallel linesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt