Fünf Rätsel zuvor
Manche Menschen sehen es kommen,
bevor man es selbst bemerkt.
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║ F Y N N ║
Leuchtend gelb strahlten mir die Dachziegel entgegen, als ich das kleine Gartentor in einer fließenden Bewegung aufschwingen ließ und den leicht verwilderten Weg zur Haustür entlang ging.
Ich wusste nicht, was mich gleich erwarten würde, doch das was mir bewusst war, war, dass ich dies hier machen musste. Es war ein leichtes Unterfangen gewesen, die Adressen in Moms Unterlagen zu finden und ein weiteres Mal dankte ich ihrer Angewohnheit all ihre Ordner kreuz und quer auf dem Küchentisch liegen zu lassen.
Ich wartete mehrere Minuten vor der Tür, nachdem ich geklingelt hatte, bevor sie langsam aufging.
Die ältere Frau trug ein bodenlanges Kleid und Lockenwickler im Haar, sodass ich es nicht verhindern konnte, einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr zu werfen. Viertel vor drei am Nachmittag. Dröhnend laut schallte mir Volksmusik entgegen und als ich bemerkte, wie mich die Frau abwartend ansah, räusperte ich mich.„Entschuldigung für die Störung. Ich kann ein anderes Mal wieder kommen, wenn es Ihnen gerade nicht passt."
„Es kommt ganz darauf an, weswegen Sie hier sind, junger Mann." Ein spitzbübisches Lächeln schlich sich auf das Gesicht der älteren Frau und sie sah an ihrem Kleid herab. „Wenn du mir nur einen Staubsauger verkaufen oder einen Kabelvertrag andrehen willst, muss ich dich leider enttäuschen. Auch bin ich vielleicht alt, aber noch nicht so senil, dass ich nicht mehr wüsste, dass ich einen Enkel wie dich hätte, dem ich unbedingt Geld in horrender Summe leihen muss."
Wie von selbst schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. „Und wie sieht es mit einer nagelneuen Waschmaschine aus?"
„Ist es nicht etwas sonderbar, dass du hier her kommst, mein lieber Fynn Reeves?"
Magda Tyllis war eine unglaublich herzliche ältere Dame mit einem überraschend amüsanten Humor. Sie füllte gerade die Kekse wieder auf, die ich innerhalb der letzten Dreiviertelstunde vernichtet hatte.
„Nicht unbedingt, es kommt darauf, wie man es betrachtet", antwortete ich achselzuckend, während ich bereits nach dem nächsten Keks griff und versuchte die Lautstärke des nächsten Liedes zu übertönen, das in einer jahrzehntealten Charts Show lief.
„Und worauf kommt es an?" Sie setzte sich wieder in ihren Blümchensessel und wartete gespannt auf meine Antwort. Als ich an all die Linien und Graphen denken musste, grinste ich automatisch.
Ich steckte mir einen weiteren Keks in den Mund, bevor ich erwiderte: „Darauf, was das Koordinatensystem für Graphen beinhaltet. Wir können es nicht verhindern, dass sie sich kreuzen, wenn es für sie vorhergesehen ist."
Magda Tyllis betrachtete mich für eine lange Zeit, bevor sie schlussendlich langsam den Kopf nickte. „Das sind weise Worte, Fynn Reeves. Ist das der Grund, warum ich es ihnen sagen soll?"
Mein Blick schweifte aus dem Fenster und auf einmal war die Schwere wieder da, die sich auf meine Lunge legte. Ich blinzelte und versuchte tief durchzuatmen.
Die Kekskrümel in meinem Mund fühlten sich wie Schmirgelpapier an und ich ballte für eine Sekunde meine Hände zu Fäusten zusammen, bevor ich meine Augen schloss und die Luft anhielt.
Dann war ich wieder in der richtigen Realität.
Die Schwere war weg.„Genau deswegen", meinte ich schlussendlich, als ich wieder die Augen öffnete und die Lautstärke des Nummer Eins Hits des Jahres 1978 mich beinahe erschlug.
Ich erhob mich langsam von dem Sofa, da ich wusste, dass ich gehen musste. Ich konnte nicht allzu viel länger bleiben, da ich sonst zu viel riskieren würde.
„Weißt du, Fynn Reeves, du erinnerst mich an meinen Sohn." Magda Tyllis sah nicht mich an, sondern starrte nur auf den Fernseher. „Davie starb als er Zwanzig war. Er hat die Chartshows geliebt und jede einzelne aufgenommen. Und mit all den Kassetten fühlt es sich wie eine Reise in die Vergangenheit zu ihm an." Ihr Blick schweifte zu mir, als sie leise auflachte. „Er würde sich sicherlich darüber aufregen, dass es schon seit einigen Jahren keine Chartshow mehr gibt."
Wieder bildete sich ein Kloß in meinem Hals und eine ungewohnte Unruhe machte sich in mir breit. Ich wusste nicht, was ihre Worte genau in mir auslösten, aber auf einmal wollte ich keine Sekunde länger die Lieder der Chartshow hören müssen, die Davie Magda als eine Art Erinnerung hinterlassen hatte.
Ich ging zur Tür, doch Magda Tyllis blieb sitzen.
Sie erwartete keine Antwort von mir, doch als ich mich ein letztes Mal zu ihr umdrehte, lächelte sie mir traurig entgegen.„Ich weiß nicht, ob Davie es vielleicht bereut hat, Fynn Reeves. Denk daran."
Ich wusste, dass sie nicht die Chartshows meinte und auf irgendeiner Art und Weise machten mich ihre Worte wütend.
Denn das einzige was ich wollte, war, Alicia zu helfen, ohne unsere Linien und Graphen durcheinander zu bringen.
Nichts anderes.Das letzte, was ich zu ihr sprach, bevor ich die Tür hinter mir zu zog, war: „Wenn irgendjemand jemals nach mir fragen sollte: Ich war nie hier gewesen."
„Wie soll ich mir auch die Namen von all den jungen Männern merken können, die mir eine Waschmaschine andrehen wollen, Fynn Reeves?"
Ich grinste, dann fiel die Tür hinter mir zu und die Musik erreichte nur noch gedämpft meine Ohren. Als ich den Weg durch den Vorgarten entlangschritt, fühlte ich mich auf einmal um einiges leichter als noch einige Minuten zuvor.
Ich sah kein einziges Mal zurück zu den gelben Dachziegeln.
Denn ich wusste, dass sich die Linien von Magda Tyllis und mir nie wieder schneiden würden.
Dies würde unsere einzige Begegnung bleiben.
Die gelben Dachziegel waren ein weiteres gelöstes Rätsel.
~
(04.08.2018)
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Parallel lines
Genç Kurgu„Wir sind wie parallele Linien, Alicia. Wir haben so viel gemeinsam, werden uns aber nie treffen. Und auch wenn es mathematisch unmöglich ist, wird meine Linie enden, während deine einfach weiterverläuft." ~ Fynn, ein Mathe-Geek mit Vorliebe für...