Prolog

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Aus der Ferne konnte sie den Donner grollen hören und sie wusste, dass sich ein Gewitter anbahnte. Sie musste sich beeilen. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit war sie unterwegs und sie spürte, dass sie bald die Kräfte verlassen würden. Doch jetzt durfte sie nicht aufgeben! So lange plante sie nun schon diesen einen Tag und jetzt durfte sie es nicht vermasseln.
Vermutlich würde das der schlimmste Tag in ihrem Leben werden, doch was sie zu tun hatte, musste getan werden! Liebevoll drückte sie das Kind, das sie im Arm trug, etwas fester an sich. Sie musste es beschützen. Niemals würde sie es sich verzeihen können, wenn er ihm etwas antat. Doch wenn sie es schützen wollte, konnte es nicht bei ihr bleiben. Jemand anderes würde es für sie tun.
Es brach ihr das Herz zu wissen, dass sie das Kind - ihr geliebtes Kind - niemals würde aufwachsen sehen. Seine ersten Schritte, seine ersten Worte, seine erste große Liebe, einfach nichts davon würde sie erleben! Sie würde nicht einmal seinen Namen kennen! Lediglich diese großen, blauen Augen würden ihr auf ewig in Erinnerung bleiben. Der Rest würde mit der Zeit verblassen, die Haarfarbe sowie das süße, kleine Lächeln und diese winzigen Hände. Aber sie hatte ihr Kind ja sowieso nicht lange gekannt. Sie würde schon damit klarkommen. Doch insgeheim wusste sie, dass sie trotzdem für den Rest ihres Lebens Narben davon tragen würde.
Sie versuchte sich einzureden, dass es besser so war. Das Kind hatte eine gute Familie verdient. Es sollte glücklich werden und unbeschwert aufwachsen können. Sie wusste, dass das bei ihr nicht möglich war. Und solange sie lebte, würde sie dafür sorgen, dass er ihm nicht zu nahe kam und ihm niemals etwas anhaben konnte. Sie würde dafür sorgen, dass er nicht auch das Leben ihres Kindes ruinierte.

Erneut hörte sie den Donner und ein Blitz erhellte kurz die dunklen Straßen. Sie beschleunigte ihren Schritt, wobei sie fast über ihr Kleid stolperte. Es war sowieso schon schmutzig und zerrissen - vollkommen ruiniert von den Strapazen der letzten Tage. Doch sie hatte tatsächlich alles geklärt, für eine gute Zukunft ihres Kindes war gesorgt. Zumindest diesbezüglich konnte sie erleichtert aufatmen.
Endlich hatte sie ihren Zielort erreicht. Aus einem Versteck in der Nähe nahm sie einen kleinen Korb und bettete das Baby darin. Dazu legte sie zwei Briefe. Dann stellte sie den Korb mit beidem vor ein großes steinernes Haus. Nun war die Zeit des Abschieds gekommen. Für immer.

Sie ließ den Tränen, die sie so mühsam zurückgehalten hatte, nun freien Lauf. Ihr Kind sah fragend zu ihr auf und schien nicht zu wissen, was es tun sollte. Dann verzog es sein niedliches Gesicht zu einer Grimasse und begann zu schreien.
„Pst, nicht doch, bitte nicht so laut!", flüsterte die Frau. Schnell wischte sie die Tränen ab und setzte ein Lächeln auf. „Siehst du, ich bin doch gar nicht traurig."
Das Baby sah sie erneut an und wirkte unschlüssig. Es streckte seine Hand nach ihr aus und begann zu lächeln. Dann fing es an zu grinsen und sie gab ihrem Kind einen letzten Kuss auf die Stirn.

Wie sehr sie es doch vermissen würde. Es würde kein Tag vergehen, an dem sie nicht an es denken würde, doch mit dem Gedanken, dass es ein gutes Leben hatte, würde sie auch jede noch so schlechte Stunde überstehen - und davon würde es noch viele geben!
Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was sie zu erwarten hatte, wenn sie zu ihm zurückkehrte. Doch sie konnte sich nicht vor dem Unvermeidlichen drücken. Er würde sie so oder so finden und wenn er sie fand, würde er irgendwann auch ihr Kind finden. Also musste sie zurückgehen und dafür sorgen, dass er das nicht tat. Auch wenn ihr das unendliches Leid einbringen würde, sie würde es für ihr Kind auf sich nehmen. So ein junges Leben durfte von solcher Dunkelheit nicht zerstört werden. Wahrscheinlich würde es auch so genug schlechte Erfahrungen machen, er musste wirklich nicht hinzukommen.

Schweren Herzens klopfte sie nun gegen die Tür und zog sich dann in die Dunkelheit zurück. Aus der Ferne beobachtete sie, wie ihr Kind geborgen und dann ins Innere des Kinderheimes geholt wurde. Kaum war die Tür geschlossen worden, schluchzte sie laut auf und sank auf dem Boden zusammen. Der Schmerz, der sie überrollte, war überwältigend, doch sie hatte das Richtige getan.
Am liebsten wollte sie laut schreien, aber sie tat es nicht. Plötzlich brach der Regen los und sie konnte keine fünf Meter mehr weit sehen. Er verschluckte sie und auch ihr Weinen und selbst wenn sie geschrien hätte, hätte sie niemand gehört. Doch das war sie seit geraumer Zeit ja schon gewohnt.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt