58. Neuanfang

14 2 0
                                    

Ich konnte mich auf dem ganzen Weg nach UEC nicht richtig konzentrieren. Noch immer musste ich an Emily denken. Als wir dann ankamen, schaffte ich es, die Gedanken vorerst zu verdrängen. Ich musste mich auf das konzentrieren, was vor uns lag, das, was wir jetzt zu erledigen hatten.
Calina hatte mich gefragt, ob ich auch ein paar Worte sagen wollte, doch ich hatte dankend abgelehnt. Sollte sie das Reden übernehmen. Ich hoffte zunächst, dass wir nicht verhaftet werden würden, sobald wir in UEC ankamen.
Das Gefährt, das wir benutzten, lief nur mithilfe von Magie. Doch tatsächlich brauchten wir nur etwa zwei Stunden für die Reise. Wenn ich daran dachte, wie lange wir für den Weg nach Deutschland benötigt hatten, war ich froh, dass diese Variante viel schneller ging.

In UEC standen sehr viele Wachen auf dem Bahnhof, auf dem wir ankamen. Sie sahen so aus, als würden sie unsere Ankunft bereits erwarten und sich darauf freuen, sich auf uns zu stürzen. Calina stieg zuerst aus und dann folgten Anna, Caleb und ich. Entgegen meiner Erwartung stürzte sich niemand auf uns.
Eine Wache ging auf Calina zu. Der Mann sah nicht so aus, als wüsste er, was er tun sollte. „Entschuldigen Sie, die Bahnhöfe sind gesperrt."
„Wer hat das veranlasst?", fragte Calina. Ihre Stimme klang plötzlich so anders. Sie war abweisend und autoritär. So musste sie als Anführerin wahrscheinlich sein.
„Cameron höchstpersönlich."
„Natürlich hat er das. Wissen Sie, wer ich bin?"
Der Mann musterte sie. „Sie sehen aus wie..."
„Richtig. Und das bin ich auch. Also bin ich durchaus dazu in der Lage, die Befehle meines Mannes aufzuheben."
Der Mann deutete eine Verbeugung an. „Sehr wohl. Ihre Begleiter werden gesucht und sollen sofort in Gewahrsam genommen werden, wenn sie gesehen werden. Ist dieser Befehl..."
„...auch aufgehoben. Genau. Und jetzt bitte ich Sie, mir Wachen zur Seite zu stellen, die mich zu meinem Anwesen geleiten!"
Der Mann nickte und wandte sich dann von uns ab. Aus einem Gürtel zog er ein Funkgerät. Mir war nicht wohl dabei, ganz unbewaffnet in UEC zu stehen. Doch was sollte uns schon passieren? Ich hoffte, dass die Leute wirklich alle auf Calina hörten.

Doch uns passierte nichts. Die Leute warfen uns zwar neugierige Blicke zu, doch sie ließen uns in Ruhe. Zunächst fuhren wir zu Calinas Anwesen, wo wir den Wagen mit der Bühne holten, auf dem Cameron mich zur Schau gestellt hatte. Nun würde es anders sein, doch meine Beine zitterten trotzdem, als ich sie betrat.
Caleb griff nach meiner Hand und drückte sie. „Es wird alles gut werden."
Ich lächelte ihm zu. „Mal sehen."
Calina redete noch mit einem Mann, doch um das Podest sammelten sich schon Leute, die versuchten, etwas herauszufinden. Calina hatten sie wohl noch nicht gesehen, denn ich hörte keine Rufe und sah keine allzu staunenden Blicke.
Einige der Leute hatten jedoch mich bereits erblickt und warfen mir abfällige Blicke zu. Ich reckte das Kinn in die Luft und wandte mich von ihnen ab. Calina kam auf mich zu.
„Kann es losgehen?", fragte sie.
Ich nickte. „Wenn du bereit bist, kann es losgehen. Sollen wir eigentlich etwas tun?"„Nein, ihr könnt dastehen und gut aussehen."
Caleb grinste. „Das sollte für Malina ein Leichtes sein!"
Ich wurde rot und starrte auf den Boden. Calina und Caleb lachten.
„Das ist nicht witzig!"
Nun kam auch Anna dazu. „Hey, was hab ich verpasst?"
„Gar nichts", antwortete ich, hakte mich bei ihr ein und ging dann voraus zu dem Platz, an dem wir stehen sollten. Calina und Caleb folgten uns, doch während Caleb sich zu Anna und mir stellte, nahm Calina einen Platz weiter vorne ein. Eine der Wachen reichte ihr ein Mikrofon.
Calina klopfte gegen das Mikrofon, um zu überprüfen, ob es an war. Nun richteten sich die Blicke der Leute auf sie. Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge, als sie erkannten, wer vor ihnen stand. Doch als Calina die Hand hob, verstummten sie.
„Ich begrüße euch, Bürger von UEC." Calinas Stimme klang wieder seltsam distanziert und kühl. Nicht so, wie ich erwartet hatte, dass sie diese Rede halten würde. „Ihr täuscht euch nicht, ich bin es tatsächlich; Calina. Und wie ihr seht, lebe ich. Dass ich durch eine furchtbare Krankheit gestorben bin, ist nur eine von Camerons vielen Lügen. Ich war krank, das ist wahr aber bin ich an dieser Krankheit nicht gestorben.
Nein, ich war lebendig und habe die letzten fünfzehn Jahre in Gefangenschaft meines lieben Mannes verbracht, während er hier sehr... interessante Dinge in die Wege geleitet hat. Und ich habe auch allerhand amüsante Dinge gehört, die er wohl über mich verbreitet hat.
Leider ist die ganze Angelegenheit nicht so amüsant, wie mir lieb wäre. Nein, ganz im Gegenteil. In den letzten Jahren sind furchtbare Dinge geschehen. Und ich bin enttäuscht von euch, dass ihr alle einfach so mitgespielt habt. Gut, vielleicht nicht alle. Ich weiß, dass es noch Leute gibt, die meine damaligen Ziele weiterhin aktiv vertreten, doch das sind die wenigsten - bedauerlicherweise.
Ihr fragt euch jetzt vielleicht, wo Cameron ist und warum ich nun vor euch stehe. Nun ja, Cameron ist an der Oberfläche für seine Schandtaten verhaftet worden und wird in den nächsten Jahren vermutlich nicht freikommen."
Wieder tuschelten die Leute miteinander. „Das beweist nur, wie unrecht die Oberwelt uns tut!", schrie jemand aus der Menge.
Calina schüttelte den Kopf. „Falsch!" Sie seufzte. „Ich sehe, Cameron hat seine Arbeit gründlich erledigt. Nun muss ich euch enttäuschen. Cameron wollte nie Rache und auch nicht das Beste für die Bürger von UEC. Es ging ihm immer nur um seine Macht. Ich stand ihm dabei im Weg, da ich nie vorhatte, eine Revolution gegen die Oberwelt zu starten. Und so hat er mich aus dem Weg geschafft."
„Vielleicht willst du ja nicht das Beste für uns!"
Wieder schüttelte Calina den Kopf. „Das ist wieder falsch. Ich bin in UEC aufgewachsen, ich liebe unsere Stadt, das tue ich wirklich. Und ich dachte, ihr tut das auch."
„Was hat das damit zu tun?"
„Es hat viel damit zu tun. Cameron hat euch sicherlich von seinem Plan erzählt. Er wollte meine Tochter und mich dazu benutzen, das Tor in das magische Reich zu finden. Ich kann euch versichern, es existiert. Meine Familie stammt von dort. Sie hat geholfen, UEC zu erschaffen.
Doch es ist nur Wunschdenken, falls ihr wirklich daran glaubt, dass die Leute euch dort für so ein niederes Motiv wie Rache in die Magie einweisen. Cameron hätte nicht friedlich gefragt, er hätte Gewalt angewandt, um seine Ziele zu erreichen. Und ich kann nicht zulassen, dass dafür ein ganzes Volk ausgelöscht wird.
Zudem würde das eurer ‚Motiv' für eure Rache zerstören. Ihr wollt Rache an der Oberwelt üben und zerstört dabei das Volk, das euch einst gerettet hat? Ich glaube nicht, dass das gerecht wäre. Zumal diese Rache nur ein Vorwand ist. Wie könnten wir einen Krieg damit rechtfertigen? Unser damaliges Dorf war längst nicht das Einzige, das betroffen war. Doch es war das einzige, das überlebte.Und wir sollten dankbar dafür sein. Wir sind so vielen Dingen entgangen, die die Oberwelt in Angst und Schrecken versetzt haben und die nichts als Leid über die Welt gebracht haben. Wir sind Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten entgangen. Dabei haben wir eine wundervolle Stadt aufgebaut.
Oder denkt ihr das nicht? Ich lebe gerne hier. Ja, meine Familie besitzt ein Anwesen an der Oberfläche, in dem wir eigentlich leben. Doch das heiß nicht, dass ich UEC nicht genauso liebe wie ihr. Wenn ihr jedoch lieber an der Oberfläche wohnen wollt, dann kann ich das auch möglich machen. Jeder, der sein Leben hier aufgeben will, kann gerne zu mir kommen und ich verspreche, dass ich für die Leute einen guten Neuanfang an der Oberfläche organisiere.
Aber euch muss klar sein, dass es an der Oberfläche keine Magie gibt. Es ist gefährlich, Magie zu zeigen, da die Leute nicht daran glauben. Doch das unterliegt dann nicht mehr meiner Verantwortung. Ich werde mich nur dann darum kümmern, wenn UEC dadurch in Gefahr gerät. Denn das kann ich nicht zulassen.
Allerdings will ich auch nicht länger hier regieren, wenn ihr noch immer Camerons Pläne bevorzugt. Er hat furchtbare Dinge getan, um diese zu erreichen. Caleb ist eins von Camerons Opfern. Als er Camerons wahren Ziele erkannt hat, wurde er für Cameron zur Gefahr und sollte vernichtet werden. Ein normaler Bürger wie ihr.
Er hat herausgefunden, dass Cameron meine Tochter finden und ‚unschädlich machen' wollte. Kurz nach ihrer Geburt habe ich sie fortgegeben, um sie vor ihrem Vater zu beschützen. Er sah darin ein Mittel zum Zweck. Um sein Ziel zu erreichen, hat er ein Kinderheim in Brand gesetzt, bei dem es viele Verluste gab."

Calina erzählte meine Geschichte zu Ende und ich war überrascht, wie dramatisch sie diese ausschmücken konnte. Doch ich glaubte, ihr Plan ging auf, denn auf fast allen Gesichtern hatte sich eine betroffene Miene breit gemacht.
„Seine letzte tat hat das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Aber seht selbst."
Plötzlich lief auf den Bildschirmen jenes Video, das Cameron mir geschickt hatte. Das Video, in dem Emily starb. Es war ein gewagter, aber gleichzeitig schlauer Schritt von Calina. Es unterstrich ihre Aussagen und bewies Camerons wahren Charakter. Ich sah trotzdem nicht hin, als es geschah. Stille Tränen schlichen sich in meine Augen. Caleb griff meine Hand.
Als ich zu ihm aufsah, lächelte er mir zu. „Wir haben es fast geschafft. Ich glaube, Calina war erfolgreich."
Ich nickte. „So sieht es tatsächlich aus."
Als das Video vorbei war, herrschte ein betroffenes Schweigen, bis Calina letztendlich wieder das Wort ergriff. „Ich bin sicher, Cameron hat noch viel mehr Leid verbreitet, von dem wir bisher noch gar nichts wussten. Und ich hoffe, ihr versteht meinen Punkt. Hätte Cameron seine Ziele erreicht, wäre dieser Tod längst kein Einzelfall geblieben. Es wäre zu einem sinnlosen Massaker gekommen. Ich hoffe, ihr versteht nun auch meine Position.
Cameron hat gelogen und betrogen, um so weit zu kommen. Und jetzt will ich von euch wissen, ob ihr noch immer hinter Camerons Zielen steht oder nicht. Wenn es so sein sollte, dass die Mehrheit seine Meinung vertritt, dann werde ich abdanken. Ich werde ein solches Land nicht länger regieren und euch auch nicht in meine Meinung zwängen. Ihr seid ein freies Volk.
Solltet ihr euch jedoch für mich entscheiden, dann werde ich versuchen, die Vergangenheit zu vergessen. Es wird sich definitiv einiges ändern, die Geschichte darf sich auf keinen Fall wiederholen, aber ich werde bleiben.
Ich will gar nicht bestreiten, dass auch meine Familie einen Teil der Schuld trägt."
Auch hier begründete Calina das, was sie uns schon erklärt hatte. Doch da es nun größtenteils um Politik ging und ich schon wusste, was sie erzählte, zogen ihre Worte an mir vorbei.

Ich sah zu Caleb, der Calina gespannt lauschte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er noch immer meine Hand hielt. Neben mir stand Anna, die nun auch nach meiner Hand griff und mir zulächelte. Ganz langsam wurde mir klar: Wir hatten es tatsächlich geschafft.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt