67. In letzter Minute

8 2 0
                                    

Der Tag verging schleichend. Immer wieder spähte ich aus dem Fenster, um zu sehen, ob Calinas Freundin schon da war. Doch das war sie nicht. Calina sah ich den ganzen Tag nicht mehr. Ich wagte es aber auch nicht mehr, nach ihr zu sehen. Caleb versuchte mich irgendwie abzulenken, doch er merkte, dass ich mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Mehrmals fragte er, was mir durch den Kopf ging, doch ich wechselte jedes Mal das Thema, wagte nicht zu erzählen, was ich getan hatte.
Mir war klar, dass er es sowieso bald erfahren würde, doch noch nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich meine Tat rechtfertigen konnte. Noch immer hoffte ich, dass ich richtig gehandelt hatte. Möglicherweise, nein, sehr wahrscheinlich sogar war Calina sauer auf mich. Noch wollte ich nicht daran denken.

„Malina, was hältst du davon, wenn wir eine Runde fechten gehen?", fragte er.
Ich musste lächeln, da ich wusste, dass er das letzte Mal ziemlich gelitten hatte. „Na gut."
Er schien glücklich darüber, etwas gefunden zu haben, um mich abzulenken. Tatsächlich schaffte er das. Zumindest für einige Stunden waren meine Gedanken ganz bei ihm und bei meinem Degen. Jedoch endete der Kampf damit, dass wir uns in die Arme fielen und Küsse austauschten. Erst als wir keinen Atem mehr hatten, ließen wir voneinander ab. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und genoss die Nähe.
„Malina?", flüsterte Caleb in mein Haar.
„Was ist?"
„Du stinkst."
Lachend stieß ich ihn von mir weg. „Du Idiot! Du zerstörst die gesamte Stimmung!"
Er lachte ebenfalls. „Tut mir leid, es war zu verlockend. Aber ich denke, dass ich nicht besser rieche. Vielleicht sollten wir beide eine Dusche nehmen und dann weiterkuscheln."
Ich verdrehte die Augen und warf einen Blick auf die Uhr. „Ach Schreck, es ist schon spät! Wir müssen bald beim Abendessen sein!"
„Genau deshalb sollten wir jetzt duschen gehen."
Ich nickte. „Sehen wir uns nach dem Abendessen?"
„Gerne."

Doch sobald ich in meinem Zimmer angekommen war, kamen auch die Sorgen zurück. Meine Gedanken begannen wieder um Calina und ihre Freundin zu kreisen.
„Du bist eine Schande!"

Ich zuckte zusammen. Doch anstatt zu zittern, stieg plötzlich Wut in mir auf.
„Wer zum Teufel spricht da?! Komm endlich raus! Ich habe keinen Bock mehr auf diese Spielchen!"
Doch es blieb still. Dann sprach die Stimme wieder.
„Du hast mich ermordet und dafür wirst du bezahlen!"

Die Stimme lachte. Sie wurde lauter, bis sie zu kreischen begann. Ich presste meine Hände auf die Ohren, doch plötzlich verstummte sie.
„Fahr. Zur. Hölle!", rief ich hinterher und trat gegen die Matratze meines Bettes. Ich musste herausfinden, wer mir diese Streiche spielte. Dazu sollte ich vielleicht endlich anfangen zu recherchieren. Bis jetzt hatte ich es mir immer vorgenommen, doch dann war etwas dazwischengekommen. Gestern war es Aria gewesen, heute Calina. Morgen musste ich wirklich anfangen.

Meine Wunden brannten fürchterlich, als ich unter der Dusche stand. Ich musste aufpassen, dass das nicht noch einmal geschah. Doch ich wusste auch nicht, wie ich es verhindern sollte. Schließlich schlief ich in der Nacht und bemerkte nicht, was ich tat.
Ein beängstigender Gedanke beschlich mich. Was war, wenn ich in der Nacht auch durch das Schloss wanderte, ohne es zu bemerken? Ich hatte von Schlafwandlern gelesen und wusste, wie gefährlich es sein konnte. Dass Leute von Dächern sprangen, ohne es zu bemerken. Das wollte ich nicht!
Ich versuchte, meine Panik zu bekämpfen. Dann musste ich meine Tür und mein Fenster abschließen und die Schlüssel verstecken. Aber wenn ich sie versteckte, wusste ich noch immer, wo sie sich befanden. Oder ich baute mir selbst eine Falle, die einen Alarm auslöste, wenn ich aus dem Bett aufstand. Ich musste mir heute Abend etwas einfallen lassen!
Durch das Brennen an meinen Armen fiel meine Dusche ziemlich kurz aus. Direkt nach meiner Dusche ging ich in den Speisesaal, doch da ich nicht lange gebrauch hatte, war ich die erste. Nur einige Minuten später kamen Lucas und Alicia, dann Caleb. Calina fehlte.

Die Dienstboten servierten unser Essen, doch noch immer war Calina nicht da. Langsam wurde ich unruhig. Sie hatte schon nichts gefrühstückt. Was war, wenn es ihr so schlecht ging, dass sie nicht aufstehen konnte?
Just in diesem Moment schwang die Tür auf und Calina taumelte hinein. Gefährlich schwankte sie hin und her, suchte verzweifelt nach Halt. Caleb und ich sprangen auf, doch da stürzte sie schon zu Boden. Ich hechtete zu ihr und kniete mich neben sie. Sie regte sich nicht. Ich rüttelte an ihr, doch ihre Augen waren geschlossen.
„Calina!"
Sie reagierte nicht! Ihre Stirn war heiß und von Schweiß bedeckt.
„Calina! Sag doch was!" Wieder schossen mir Tränen in die Augen. Ich wollte sie nicht verlieren!
Wieder rüttelte ich an ihr, diesmal energischer. „Calina! Mama! Bitte, sag etwas!"
Doch sie rührte sich nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Ich glaubte, unter mir würde sich ein Abgrund auftun und ich befand mich im freien Fall. Das alles war zu unwirklich, es konnte einfach nicht geschehen. Das durfte nicht geschehen!
„Malina, bitte, rede doch mit mir!"
Ich drehte mich um und sah in Calebs Augen. Für einen Moment fühlte ich mich in die Vergangenheit versetzt. Ich sah die Flammen des Kinderheimes aufsteigen und hörte Katies Schreie. Nein! Ich durfte Calina nicht auch noch verlieren! Nicht schon wieder.
„Jemand muss ihr helfen!", schrie ich.
„Komm, wir holen einen Arzt", bot Caleb mir an.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich werde sie nicht verlassen!" Nicht so, wie ich Katie verlassen hatte. Ich hatte ihr nicht helfen können, das würde mir mit Calina nicht passieren.
„Gut, dann werde ich jetzt Hilfe holen!" Caleb sprang auf und rannte aus dem Raum.
Leute wuselten um mich herum. Stimmen tuschelten aufgeregt. „Warum tut denn niemand was?", schrie ich. „Bringt Wasser! Irgendetwas! Eine Decke, ein Kissen, aber helft doch!"
Ich nahm die Hand meiner Mutter und sah ihr ins Gesicht. Sie war so blass. Atmete sie überhaupt noch? War es schon zu spät? Panik stieg in mir auf und ein Schluchzen entfuhr mir. Zitternd legte ich meinen Kopf auf ihren Brustkorb. Ich hörte ihr Herz schlagen. Erleichterung stieg in mir auf, gleichzeitig begann ich nur noch heftiger zu weinen. Ich konnte sie nicht verlieren, das würde ich nicht aushalten!

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt