56. Augenblicke

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Am liebsten hätte ich auf ewig so verharrt, doch irgendwann versiegten die Tränen und ich machte mich von Calina los. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, weshalb ich aufstand und mich mit dem Rücken zu ihr drehte.
„Träumst du öfter schlecht?", fragte sie besorgt.
Ich nickte.
„Ist es wegen dem, was Cameron dir angetan hat?"
Wieder nickte ich.
Calina musste aufgestanden sein, denn ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. Sie drehte mich zu ihr und drückte sanft meinen Kopf nach oben, sodass ich ihr in die Augen sehen musste.
„Bitte verrate mir, was du genau getan hast, dass Cameron zu solchen Methoden gegriffen hat."
Ich riss mich von ihr los und drehte mich wieder von ihr weg. „Ich habe gar nichts getan!"
„Aber es muss doch irgendeinen Anlass für Camerons Untaten geben! Er denkt sich doch nicht einfach ‚Hey, heute ist ein guter Tag, um Kinder zu foltern'!"
Ich spürte, dass der Moment gekommen war. Meine Beine zitterten und meine Hände waren zu Fäusten geballt. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich hatte nur das Pech, seine Tochter zu sein."
Calina schwieg und ich traute mich nicht, zu ihr zu sehen.
„Malina?"
Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, brachte mich letztendlich doch dazu, mich umzudrehen. Obwohl ich gerade erst geweint hatte, liefen mir wieder Tränen über die Wangen. Calina wischte mir die Tränen weg und strich mir dabei so sanft übers Gesicht, als könnte ich zerbrechen. Es bedurfte keine Worte, die diesen Moment nur zerstören würden.

Lange musterte Calina mich, dann zog sie mich erneut in eine Umarmung. Doch dieses Mal wusste sie, wer ich war. Dieses Mal war es anders. Trotzdem genoss ich jede einzelne Sekunde dieses einzigartigen Momentes. Genoss es, mit meiner Mutter vereint zu sein. Alle Sorgen, die ich hatte, schienen sehr weit entfernt und ich konnte nur an das Jetzt und Hier denken.

Leider musste auch dieser Moment irgendwann enden. Calina löste sich von mir und musterte mich erneut. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass du wirklich hier bist. Aber es erklärt, wie du hierherfinden konntest. Wieso hast du mir nicht erzählt, wer du wirklich bist."
„Ich wollte ja! Aber ich wusste nicht wie. Ich dachte die ganze Zeit du seist tot und plötzlich standest du vor mir. Ich..."
Calina schüttelte den Kopf. „Schon in Ordnung. Ich kann es verstehen. Sind deine Freunde deshalb in ein anderes Zimmer gegangen? Um dir die Chance zu geben, mich kennenzulernen?"
Ich nickte. „Hätte ich es nicht getan, hätten Anna und Caleb dir spätestens morgen die Wahrheit gesagt."
„Nun ja, da ich nun weiß, wer du wirklich bist, kannst du mir jetzt die ganze Geschichte erzählen?"
Ich nickte und wischte mir übers Gesicht. „Das kann aber eine Weile dauern."
Calina lächelte. „Das macht nichts. Wir haben jetzt Zeit."

Während ich erzählte, stellte sie viele Fragen, weshalb wir erst weit nach Mitternacht ins Bett kamen. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte. Am nächsten Morgen wurde ich von Annas und Calebs energischem Klopfen an der Zimmertür geweckt.

Ich lag noch im Bett, als Calina die Tür öffnete. Anna und Caleb begrüßten sie höflich und kamen dann zu mir.
„Sieht aus, als hättest du eine lange Nacht gehabt", bemerkte Caleb spöttisch, woraufhin ich ihm böse Blicke zuwarf. Doch er tat so, als hätte er sie gar nicht bemerkt. „Und, hast du...?"
„Malina hat mir alles erzählt, wenn du das meinst", antwortete Calina auf seine Frage.
„Sehr gut. Wenn es dir recht ist, können wir dann unser weiteres Vorgehen besprechen."
Calina nickte. „Selbstverständlich. Ihr habt so lange gekämpft, da soll es nun an mir nicht scheitern."
„Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich vorher noch gerne frühstücken", meldete ich mich zu Wort.
Anna lachte. „Ich stimme dem gerne zu."

Nachdem wir auch das erledigt hatten, setzten wir uns auf unserem Zimmer in einen Kreis. Ich war nervös, aber gleichzeitig freute ich mich darauf, wieder aktiv zu werden.
„Wie sah den euer bisheriger Plan aus?", fragte Calina.
Caleb schmunzelte. „Also eigentlich sind wir nur deinen Hinweisen gefolgt, in der Hoffnung, am Ende einen Plan zu finden."
Calina kratzte sich am Kopf. „Also ein perfekter Plan wäre am Ende nicht gewesen. Ich konnte schließlich schlecht vorhersagen, wie die Lage fünfzehn Jahre später ist."
„Aber wohin führt das Rätsel denn dann?", warf Anna genervt ein.
„Das Ziel wäre im Schloss gewesen. Es gibt ein riesiges Kellergewölbe darunter. Und darin befindet sich unter anderem einen Gegenstand, mit dem sich eine Freundin von mir kontaktieren ließe. Das Medaillon hätte es aktiviert. Und diese Freundin hätte euch dann geholfen. Aber da ich noch da bin, ist das wohl überflüssig."
„Das heißt, wir haben gar nichts?" Anna fuhr sich seufzend durch die Haare.
„Nein, nicht ganz. Ich habe schon eine Ahnung, was wir tun könnten. Malina hat mir etwas von euren bisherigen Plänen erzählt und ihr habt richtig erkannt, dass wir nicht viel erreichen können, wenn das Volk nicht auf unserer Seite steht. Ich schlage deshalb vor, dass die Leute aus UEC wählen sollten, wen sie als ihren Anführer haben wollen."
Caleb starrte sie entsetzt an. „Und du denkst, das funktioniert? Die Leute sind besessen von Camerons Vorstellung. Er hat ihnen ein falsches Bild von dir und auch von Malina vermittelt. Wenn du ihnen die Wahl lässt, werden sie Cameron wählen."
Caleb wollte noch mehr sagen, doch Anna fiel ihm ins Wort. „Kannst du nicht einfach hingehen, sagen ‚Hey, ich bin die rechtmäßige Anführerin, ich übernehme den Job wieder' und gut ist's?"
„Ich bezweifle, dass das so einfach ist", überlegte Calina. „Eigentlich sollte es so funktionieren, aber wenn die Leute tatsächlich denken, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, dann bringt es uns auch nichts, wenn ich Cameron freiwillig in die Hände spiele. Wir müssen die Leute zuerst davon überzeugen, dass er gelogen hat."
„Aber wie wollen wir das bitte anstellen? Du hast selbst gesagt, dass es zu riskant wäre, nach UEC zurückzukehren."
„Stimmt. Aber ich habe da schon so eine Idee. Was denkt ihr, wie lange das Schloss schon meiner Familie gehört?"
„Wenn du so fragst, dann sicher ziemlich lange", mutmaßte Caleb.
Calina nickte. „Stimmt. Schon seit mehreren hunderten von Jahren leben wir dort und regieren in UEC. Ihr habt sicher bemerkt, dass das Reisen zwischen den zwei Kontinenten ziemlich anstrengend sein kann. Seit einigen Jahren haben wir nun das Schnellreisesystem, mit dem wir in wenigen Stunden von einem Ort zum anderen Reisen können, aber auch das ist unpraktisch, wenn es dort einen Notfall gibt. Oder man einfach schnell Nachrichten nach UEC durchreichen möchte."
„Und ihr habt eine Lösung für das Problem gefunden?"
Calina grinste. „Korrekt. Im Kellergewölbe gibt es einen Kontrollraum, mit dem man auf die Systeme in UEC zugreifen kann. Ich glaube nicht, dass Cameron davon etwas weiß, da er immer lieber in UEC war, als seine Zeit hier im Schloss zu verbringen."
„Und mit diesem System können wir uns in die Systeme in UEC hacken?", fragte Anna.
„Wir brauchen gar nicht zu hacken. Da meine Vorfahren eher im Schloss gelebt haben, empfanden sie es als sicherer, wenn man den Hauptkontrollschalter hierher verlegt. Ich habe das Passwort und damit könnten wir theoretisch ganz UEC lahmlegen."
Ich musste grinsen. „Das ist perfekt! Wir können uns über die riesigen Bildschirme in ganz UEC übertragen und den Leuten die Wahrheit erzählen!"
„Aber reicht das denn, um die Leute zu überzeugen?", fragte Anna.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. „Das wird es bestimmt."
Calina seufzte. „Annas Einwand ist leider berechtigt. Ich kann das Volk nicht mehr einschätzen, ich weiß ja nicht, was Cameron ihnen in den letzten Jahren so erzählt hat. Caleb, du hast dort gelebt, oder?"
Er nickte. „Es wird schwer werden, die Leute zu überzeugen. Mittlerweile ist leider ein Großteil für seinen Plan. Es ist wie eine Gehirnwäsche gewesen."
„Und wie hast du die Wahrheit erkannt?"
„Naja, ich habe meine Nase in Angelegenheiten gesteckt, die mich nichts angehen. Es waren hauptsächlich Aufzeichnungen über seine Pläne. Allerdings waren sie anders formuliert als in seinen Reden. Er hat nicht von Rache oder dem Wohle der Bevölkerung gesprochen, sondern nur von seiner Macht und dass er die verdienen würde. Die Papiere wird er jedoch vernichtet haben.
Als ich weiterrecherchiert habe, habe ich dann von Malina erfahren. Cameron war ihr schon dicht auf den Fersen. Es stand in seinen Plänen, dass er sie ‚unschädlich' machen wollen würde. Ich konnte nicht glauben, was ich da lese. Und an dieser Stelle wurde ich erwischt. Ich musste aus UEC fliehen und habe beschlossen, Malina zu beschützen."
Diese Version seiner Geschichte kannte ich noch gar nicht. „Wieso? Ich meine... du kanntest mich doch gar nicht."
„Stimmt. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Aber was hatte ich noch zu verlieren? Blöderweise war ich zu unvorsichtig. Cameron hatte dich sowieso schon fast, aber ich dachte, ich könnte dich schneller finden. Das habe ich auch, doch dadurch habe ich ihn zu dir geführt. Bevor ich Kontakt zu dir aufbauen konnte, hatte er schon das Feuer gelegt. Es tut mir leid, dass ich das nicht verhindern konnte."
Ich schüttelte den Kopf. „Du kannst nichts dafür. Hättest du mich nicht gesucht, hätte ich das Medaillon nicht gefunden und dann hätte Cameron mich wahrscheinlich gefunden."
Anna verdrehte die Augen. „Können wir uns bitte wieder auf den Plan konzentrieren?"
„Ich dachte, unser Plan wäre, ins Schloss einzubrechen, dieses Kontrollzentrum zu erreichen und die Leute von unserer Geschichte zu überzeugen."
„War es nicht so, dass das nicht klappen wird?"
Calina ergriff wieder das Wort: „Stimmt, das könnte passieren, jedoch ist es momentan unsere einzige Möglichkeit."

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt