32. Anschuldigungen

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Einige Zeit geschah noch nichts, dann sah ich, wie meinem Vater ein Headset in die Hand gedrückt wurde, dass er sich aufsetzte. Als er nun zu sprechen begann, war seine Stimme durch einen Verstärker überall zu hören.
„Seid gegrüßt liebe Bewohner von UEC. Es kommt nicht oft vor, dass ich persönlich zu euch sprechen kann, doch heute ist so ein Tag. Ihr fragt euch sicherlich zu welchem Anlass, doch das werde ich euch gleich verraten. Aber eins könnt ihr mir glauben, es wird ein feierlicher Tag werden."
Applaus tobte auf und ich sah, wie mein Vater die Anerkennung genoss. Ich konnte ihm nur verächtliche Blicke zuwerfen.
Als er eine Handbewegung machte, verstummte der Applaus und Cameron konnte weitersprechen. „Wer von euch erinnert sich an die Geschichte UECs? Ich bin sicher, jeder tut das, ich werde sie trotzdem kurz wiederholen.
Ja, einst war UEC nur ein kleines Dorf, das oft von Plünderern und Sklavenhändlern heimgesucht wurde. Bis das Gründerehepaar – meine lieben Vorfahren – das Volk aus seiner Misere befreite, indem es diese unterirdische Stadt schuf. Und seither leben wir hier.
Doch wer von euch findet das gerecht? Wir haben eine wunderschöne Stadt und kommen in den Genuss einer ganz unglaublichen Macht, nämlich der Magie. Und trotzdem wurden wir nach hier unten verbannt! Wäre es nicht viel gerechter, wenn wir denen, die unseren Vorfahren so unendlich viel Leid gebracht haben, ihre gerechte Strafe zukommen lassen? Ihnen zeigen, wie sehr unser Volk durch sie gelitten hat? Denn wir sind doch viel mächtiger als sie geworden! Und trotzdem verstecken wir uns hier. Und ich sage erstmals, dass es reicht! Wir müssen aufhören, uns zu verstecken!"
Wieder brandete Applaus auf, Jubelrufe, die meinen Vater feierten. Ich konnte nicht glauben, dass diese ganzen Menschen hier tatsächlich so versessen auf ihre Rache waren! Was konnten die Menschen heute denn dafür, was ihre Vorfahren getan hatten?
Wieder ergriff mein Vater das Wort und ließ so den Applaus enden. „Ich, als euer treuer Anführer, möchte dies für euch möglich machen. Wir alle sollten bekommen, was wir verdienen. Und dazu habe ich einen Plan, den ich erstmals komplett öffentlich präsentieren möchte.
Ich weiß, dass hier und da einige Informationen bereits an die Öffentlichkeit gelangt sind, doch ich kann nicht für ihre Richtigkeit garantieren. Es sind lediglich Gerüchte. Nun zu meinem wahren Plan: Ich habe herausgefunden, dass neben unserer Welt eine weitere existiert. Sie soll voller Magie sein und Gerüchten zufolge sollen Feen darin leben.
Mein Ziel ist es, gemeinsam mit euch dieses Reich – diese Welt – zu finden und zu ergründen. Bisher wissen wir nur einen kleinen Bruchteil über die Magie, mit dem wir schon Unglaubliches schaffen konnten. Was wäre, wenn wir im Besitz der vollen Magie wären?
Ich will mit euch dieses Reich finden und von den Feen erlernen, was es an Magie gibt – auf ganz friedliche Art und Weise selbstverständlich. Und mithilfe dieser Macht können wir dann unsere Rache bekommen und der restlichen Welt zeigen, wie mächtig wir wirklich sind!" Er reckte seine Faust in die Luft, woraufhin die Leute förmlich ausrasteten. Wie konnten sie nur auf so etwas reinfallen? Niemals würde mein Vater friedlich mit diesen Feen aus dem Land verhandeln wollen. Und es ging ihm auch nicht allein um Rache, sondern um Macht! Schließlich waren es gar nicht seine Vorfahren, sondern die meiner Mutter.
Zorn wallte in mir auf, ich konnte mich nicht mehr beherrschen. „Lügner!", schrie ich.
Amüsiert wandte mein Vater sich wieder mir zu. „Ach ja, kommen wir nun zu dem eigentlichen Anlass meiner kleinen Rede. Denn trotz der ganzen Unterstützung, die ich von euch bekomme, gibt es einige Gegner meines Vorhabens. Sie verbreiten Lügen über mich und wollen mich als Monster darstellen, um auch andere von ihrer Meinung zu überzeugen. Doch soeben habe ich euch die Wahrheit gesagt. Und ich sehe nichts Schlechtes an meinem Vorhaben, ich will doch nur Gerechtigkeit!
Nun ja, es gibt einige Gegner. Sie leben versteckt unter allen, die für mich sind. Jeder, der etwas über solche Verräter weiß, darf sich gerne an mich wenden. Ich werde dann persönliche Gespräche mit diesen Gegnern führen, um auch letzte Vorurteile und Falschinformationen, sowie Missverständnisse auszuräumen.
Unter den Gegnern befand sich bedauerlicherweise auch meine geliebte Frau Calina, die nun seit einigen Jahren nach einer schweren Krankheit verstorben ist. Doch sie hat nicht zum Wohle der Bevölkerung gehandelt, sie war blind. Sie war so sehr darauf versessen, sich mit der Oberwelt gut zu stellen, dass sie uns und unsere Geschichte vergessen hat.
In ihrem Wahn entführte sie unser geliebtes Kind. Lange war ich erfüllt von Trauer und es war mir nicht möglich, meinen Pflichten nachzugehen, doch nun habe ich mich wieder gefangen. Denn vor kurzem wurde meine liebe Tochter gefunden.
Sie musste ihr gesamtes Leben in einem Kinderheim verbringen, weil Calina nicht fähig war, eine gute Mutter zu sein! Meine geliebte Tochter! Und dann musste ich feststellen, dass Calina sie verdorben hat." Er schüttelte traurig den Kopf und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich ihm sogar geglaubt.
„Nun, seht her! Hier ist sie, meine Tochter!" Cameron wies auf mich und sofort waren alle Blicke zu mir gerichtet. Es war mir unangenehm so angestarrt zu werden, doch ich rührte mich nicht und versuchte weiterhin, so stolz auszusehen, wie es mir möglich war.
„Heute muss sie hier in Ketten stehen, denn Calina hat sie zu grausigen Verbrechen gedrängt. Sie hat sie verdorben! Meine Tochter ist nicht nur ein unschuldiges Mädchen, das in einem Kinderheim aufwachsen musste, nein, sie ist viel mehr.
Eine Lügnerin.
Eine Verräterin.
Eine Mörderin!"
Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Mir war, als würde man den Boden unter meinen Füßen wegreißen! Panik drohte mich zu ergreifen und ich musste um Fassung ringen. Ich war keine Mörderin!
„Ja, ihr habt recht gehört. Meine Tochter ist eine Mörderin. Leider kann auch ich mich dieser Tatsache nicht entziehen. Natürlich liegt ein wesentlicher Teil der Schuld auf meiner Frau Calina, die sie dazu verleitet hat, aber auch meine Tochter trägt dazu bei.
Sie hat gelogen, um die Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Sie hat sie manipuliert und mit ihren Gefühlen gespielt. Einer meiner ehemals treusten Soldaten, Caleb Malone, wurde von meiner Tochter verführt und verlor sein Herz an sie. So wie auch sie, hat er unser Land verraten und ihr bei den Morden geholfen." Kurz setzte mein Herz einen Schlag aus. Sagte mein Vater die Wahrheit oder log er auch hier? Hatte Caleb wirklich Gefühle für mich? In meinem Bauch begann es aufgeregt zu kribbeln. Nein, ich vertrieb den Gedanken. Caleb war ein Freund und er hatte ebenfalls das Ziel, meinen Vater zu besiegen, nichts weiter. Und Cameron benutzte diese Ausrede nur, um die Leute auf seine Seite zu ziehen und Calebs Taten zu rechtfertigen. Er log, wie immer.
„Meine Tochter hat dieses Land verraten. Sie hat sich gegen unser Wohl entschieden und für das der Oberwelt. Sie beschützt einen Oberweltler, mit dem sie gemeinsam unsere Rache verhindern will. Ja, die beiden haben tatsächlich geglaubt, sie könnten mich stürzen!" Cameron lachte. „Wie man sieht, hat sie das nicht geschafft."
Noch nicht. Denn ich hatte noch nicht vollends aufgegeben. Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. Und solange ich am Leben war, würde ich das Ziel meiner Mutter fortführen!
Ich staunte plötzlich über mich selbst. Woher kam dieser Wille, das Ziel meiner Mutter zu erreichen? Eigentlich hatte ich mit dem Ganzen doch gar nichts zu tun! Doch, das hatte ich. Ich wollte mir einreden, ich hätte es nicht, aber ich war wahrscheinlich sogar tiefer in diese Angelegenheiten verstrickt als Caleb. Aber was kümmerte es mich schon, wenn mein Vater hier sein Glück versuchte? Wer sagte überhaupt, dass es diese magische Welt gab? Wer glaubte daran, dass Cameron sie jemals fand?
Ich war noch in Gedanken versunken, da sprach er weiter: „Das Schlimmste Verbrechen ist jedoch der Mord. Meine Tochter nahm einigen Menschen – geliebten Menschen und treuen Soldaten – das Leben. Um ihre Ziele zu erreichen, hat sie die anderer Menschen genommen und dies ist ein Verbrechen, das ich nicht ungesühnt lassen kann.
Ja, dieses Mädchen ist meine Tochter, aber genauso wie jeder andere hat auch sie eine Strafe für ihre Verbrechen verdient. Eine mildere Strafe, da sie noch immer unter dem Bann ihrer Mutter steht, doch überhaupt eine Strafe. Und ich gebe euch nun die Chance, diese mit mir zu bestimmen!"
Laute Jubelrufe ertönten. Ich hatte das Gefühl, man würde mir den Hals zuschnüren. Mein Herz schlug rasend schnell und das Atmen wurde schwer. Ich rang zum zweiten Mal an diesem Tag um Fassung. Welche Strafe würde man für mich auswählen?
Ich nahm die Geräusche – die Stimmen der Menschen – nur noch gedämpft wahr. Stand ich überhaupt noch gerade? Es kam mir so vor, als würde sich die Welt um mich herum drehen. Nein, ich durfte jetzt nicht schwach werden!
Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch. Meine Mutter war bei mir. In meinem Herzen war sie immer bei mir und unterstützte mich, was auch immer geschah. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie alles durchgestanden haben musste. Und dabei war sie immer stark geblieben. Sie hat für das gekämpft, an das sie geglaubt hatte. Obwohl ich sie nie kennengelernt hatte, war sie zu einer Art Vorbild für mich geworden.
Und jetzt verstand ich auch, warum ich ihre Ziele fortsetzen wollte. Meine Mutter hatte ihr Leben dafür gegeben, dass ich glücklich sein konnte. Und dabei hatte sie immer Haltung gewahrt und hat bis zum Schluss gekämpft. Sie war viel stärker, als ich es je sein konnte. Doch das wollte ich!
Ich wollte beweisen, dass ich auch stark sein konnte! Ich war nicht mehr schwach und zerbrechlich, nicht mehr das kleine Mädchen. Die vielen Verluste und Gefahren hatten mich über mich selbst herauswachsen lassen. Ich wollte die Schuld bei meiner Mutter wieder gut machen und ihr gerecht werden, denn das hatte sie verdient! Und dafür würde ich auch kämpfen! Mein Vater sollte dafür bezahlen, dass er ihr Leben – und auch meines – genommen hatte!
Und ich beschloss, welche Strafe auch immer er für mich aussuchen würde, ich würde sie mit Stolz ertragen. Ich wollte stark bleiben und würde ihm niemals gehorchen. Selbst wenn er mir mit dem Tod drohte. Ich war schon so oft dem Tod entronnen. Und wenn ich schon starb, dann wollte ich wenigstens mit Würde gehen. Und für seine Ziele zu sterben, hatte für mich etwas Ehrenhaftes. Ja, ich war stark!
Und irgendwann würde mein Vater das auch noch bemerken!

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt