18. Rätsel

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Ich rechnete mit einem Aufprall, doch plötzlich wurde mein Fall gebremst. Verwirrt öffnete ich die Augen. Langsam schwebte ich den Abhang hinunter.
„Anna!", wollte ich schreien, doch es kam kein Ton aus meiner Kehle.
„Anna, es geht mir gut!", versuchte ich es erneut, doch noch immer blieb ich stumm.
Der Boden kam näher und sobald meine Füße ihn berührten, ließ dieser seltsame Schwebezustand nach. Kurz gaben meine Beine unter mir nach und ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder gefangen hatte.
Was war überhaupt passiert? War ich das? Oder das Medaillon? Nein, es schien so, als würden entweder das Medaillon oder meine Hände leuchten, wenn ich oder das Medaillon einen Zauber ausführten. Aber diesmal war nichts davon der Fall gewesen.
Verdammt, Anna war noch immer dort oben! Sie machte sich sicherlich Sorgen um mich.
„Anna, hörst du mich?" Ich konnte so laut schreien wie ich wollte, es bewegte sich lediglich mein Mund. Was war nur hier los? Vielleicht konnte ich ihr ja mit meiner Kette ein Zeichen geben? Ich ließ sie einige Male aufleuchten. Immer und immer wieder. Hoffentlich sah sie das.

Irgendwann verschwand das Licht oben. Anna musste gegangen sein. Verdammt! Ich betete, dass sie mein Licht gesehen hatte. Doch nun musste ich mich mit dem Problem beschäftigen, wie ich hier wieder herauskam.
Ich benutzte mein Medaillon, um die Gegend zu erkunden. In einer der Felswände entdeckte ich eine Inschrift:

Graben des Schweigens

Also war hier vermutlich ein Zauber im Spiel. Doch warum sollte meine Mutter einen solchen Zauber auf diese Schlucht legen? Vielleicht war er ja gar nicht von ihr. Vielleicht wusste sie nicht, was hier unten war, als sie diesen Tunnel geschaffen hatte. Verdammt, ich musste irgendwie wieder nach oben kommen. Vielleicht gab es ja eine Leiter?
Ich suchte weiter die Wände ab. Irgendwann kam ich an einen Tunnel. Hier unten ging es also auch weiter. Vielleicht führte dieser Gang irgendwie wieder an die Oberfläche. Oder zumindest irgendwohin. Denn ich hatte nun gar nichts mehr bei mir. Anna war fort und wenn ich hier nicht rauskam, würde ich hier unten verrecken!
Panik stieg in mir auf. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Ich war gerade schon fast gestorben. Also eigentlich wäre ich jetzt schon tot. Da machte es nur mir etwas aus, wenn ich nochmal starb. Ich schluckte. Fast hatte ich mich gefreut, meine Mutter zu sehen. Dieser Gedanke machte mir Angst.
Schnell schob ich ihn fort und konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Ich war nicht tot und ich hatte auch nicht vor zu sterben. Das Leben hatte mir noch eine Chance gegeben und die musste ich jetzt nutzen! Ich würde durch diesen Tunnel gehen und einen Weg hier raus finden! Für Anna!

Bevor ich tatsächlich in den Tunnel ging, suchte ich die Schlucht noch nach anderen Fluchtwegen ab, doch außer ihm gab es keine andere Alternative. Es war seltsam, dass ich nun ganz alleine war. Bisher hatte Anna mich auf diesem gesamten Abenteuer, das mit Abstand mein gefährlichstes war, begleitet. Eigentlich war ich vorher nie wirklich allein gewesen. Ich hatte mich zwar immer einsam und verlassen gefühlt, doch ich hatte keine Ahnung, wie sich die Einsamkeit tatsächlich anfühlt. Ich hatte nur geglaubt, es zu wissen. Jetzt war ich wirklich allein.
Nein, Anna war im Geiste immer noch bei mir. Sie dachte bestimmt, mir sei etwas passiert. Ich musste sie so schnell wie möglich finden! Das war ich ihr schuldig!
Also zögerte ich nicht weiter und ging durch den Tunnel. Er war größer als der Schacht, durch den Anna und ich gegangen waren. Das Licht des Medaillons reichte kaum aus, mir genügend Licht zu spenden. Ich konnte gerade so sehen, was sich vor mir befand. Diesmal ging ich äußerst vorsichtig durch den Tunnel. Noch einmal konnte Anna mich nämlich nicht davor bewahren, einfach hinunterzufallen.
Doch meine Sorge war unbegründet. Der Tunnel mündete irgendwann in einer großen Halle, von der viele Gänge abgingen. Seltsamerweise war es hier dunkel und trotzdem konnte ich alles genau erkennen. War das wieder ein Zauber? Ich seufzte. Wenn das so weiterging, dann würde ich Magie irgendwann hassen. Wieso musste ich immer raten, was plötzlich geschah und wieso musste das alles so kompliziert sein?
Wenn nur Anna hier wäre. Sie hätte sicherlich eine Antwort, die hatte sie ja sonst auch immer. Nein, ich durfte jetzt nicht durchdrehen. Das Medaillon wies mir noch immer zuverlässig den Weg. Ich musste ihm einfach folgen und sollte so wenig nachdenken wie möglich. Das würde nur Fragen aufwerfen, auf die ich eh keine Antwort finden würde. Also musste ich einfach weitergehen und hoffen, dass ich irgendwo wieder herauskam; irgendwann.

Das Medaillon führte mich durch die Gänge, die sich immer mehr verzweigten. Das alles kam mir vor, wie ein riesiges Labyrinth. Wahrscheinlich war es das auch. Ohne das Medaillon wäre ich schon lange verloren gewesen. Ich hätte mich hier hoffnungslos verlaufen. Am besten dachte ich noch gar nicht daran, wie ich hier je wieder herauskommen sollte.
So langsam begann mein Magen zu knurren. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, doch ich sollte mich mit dem Ausweg ein bisschen beeilen. Sonst würde das bald nicht mehr nötig sein. Also beschleunigte ich meinen Schritt noch etwas.

Irgendwann endete der Tunnel. Verdammt, ich war in eine Sackgasse gelaufen! Hatte mich das Medaillon doch falsch geführt? Wie sollte ich hier wieder herausfinden? Noch immer zeigte der Lichtstrahl des Medaillons nach vorne. Also gegen die Wand. Erst jetzt fiel mir auf, das die Wand mit Mustern verziert war.
Ich ging näher heran, um sie genauer betrachten zu können. Nein, das waren keine Muster, es war ein Wandbild. Und es zeigte meine Mutter! Vielleicht war der obere Weg gar nicht die Lösung, sondern sie hatte geplant, dass ich falle. Aber wieso? Ich meine, wer würde damit rechnen, dass jemand freiwillig eine Klippe hinunterspringt? Aber gleichzeitig war es genauso genial. Niemand würde ahnen, dass hier unten die wahre Lösung lag. Ich war also niemals in Gefahr gewesen! Das sollte Anna vielleicht auch wissen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen.
Schnell verdrängte ich die Gedanken wieder. Ich musste mich auf meine jetzige Aufgabe konzentrieren. Denn je schneller ich die Rätsel meiner Mutter löste, desto schneller konnte ich Anna wiedersehen.

Also betrachtete ich das Bild meiner Mutter genau. Sie sah mir entgegen. Ihre Haare wallten im Wind. Zumindest sah es so aus. In der Hand hielt sie einen Pinsel. Sie hatte wirklich eine Vorliebe für Rätsel. Ich seufzte. Nichts wies darauf hin, wie es weitergehen könnte. Wieso konnte sie mir ihren Hinweis nicht einfach zeigen?
Zeigen...
Der Pinsel! Vielleicht zeigte sie ihn mir ja. Ich folgte dem Weg, den der Pinsel wies, und tatsächlich fand ich eine kleine Unebenheit in dem Bild. Es war ein Knopf! Ich betätigte ihn und sah zu, wie sich die Wand einen Spalt breit verschob, sodass ich hindurchklettern konnte. Wohin sollte das Ganze nur führen?

Die Antwort sollte ich bald bekommen, denn der Tunnel mündete in einem Raum. In der Mitte stand ein steinerner Sarg. Meine Beine wurden weich und wieder spürte ich die Tränen in meinen Augen brennen. Langsam trat ich an den Sarg heran. Ein Name war eingraviert;

Calina

Ihre Gestalt war als Relief abgebildet. Sie sah wunderschön aus. Wie gerne hätte ich sie nur kennengelernt. Bei näherem Betrachten stellte ich fest, dass an ihrem Dekolleté ein Stück fehlte. Einem Instinkt folgend nahm ich mein Medaillon ab und legte es in die Lücke. Es passte.
Kurz geschah gar nichts, dann begann das Medaillon zu leuchten. Eine Gestalt aus Licht erschien über ihm; meine Mutter.
„Du hast also beschlossen, mich zu suchen und dich meiner Warnung widersetzt. Wenn du bis hier gekommen bist, ist das nun deine letzte Möglichkeit, dem Ganzen hier den Rücken zu kehren und zu verschwinden."
Sie wies nach links, wo sich nun ein weiterer Tunnel öffnete.
„Da du vermutlich entdeckt worden bist, findest du dort alles, was du brauchst, um ein neues Leben anzufangen und glücklich zu werden. Der Gang führt von UEC fort. Es steht alles bereit. Und ich wünsche mir wirklich sehr, dass du diesem Weg folgst und glücklich wirst; ohne mich.
Allerdings kann ich dich dazu nicht zwingen. Wenn du unbedingt weiter dein Leben aufs Spiel setzten willst, dann folge diesem Gang."
Sie wies nach rechts, wo sich wiederum ein Tunnel öffnete.
„Ich kann dich leider unmöglich auf diese Reise vorbereiten. Etwas Geld ist dort, ja. Aber ich weiß nicht, was ich dir sonst geben soll. Zumal ich gar nicht will, dass du diesen Weg betrittst. Alles, was ich mir immer für dich gewünscht habe, ist ein normales Leben. Das wünsche ich mir immer noch, wo immer ich mich zu diesem Zeitpunkt auch befinden mag.
Ich wollte nie, dass du unter meinen Fehlern leiden musst. Das tut mir sehr leid. Ich war fruchtbar dumm und naiv und ich bitte dich noch einmal. Geh fort von hier und lebe dein Leben. Werde glücklich und vergiss all das. Es wird dir nur Unglück bringen, so wie es das bei mir getan hat. Außerdem ist UEC unglaublich mächtig geworden. Ich will nicht, dass du dich meinetwegen in Gefahr begibst. Bitte, erfülle mir diesen letzten Wunsch und geh.
Falls du dennoch nicht auf mich hören solltest, gebe ich dir den nächsten Hinweis. Er führt zu dem Wohnsitz, in dem unsere Familie schon seit vielen Jahren lebt. Dein Vater lebt dort und auch ich habe dort gelebt.
Doch denk immer daran. Ich liebe dich und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Pass auf dich auf und sei stark."
Dann begann die Gestalt immer heller und heller zu leuchten. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber bald nichts mehr erkennen. Dann verschwand das Leuchten wieder und vor mir lag eine Schriftrolle. Zögerlich nahm ich erst sie und dann mein Medaillon. Nun musste ich mich nur noch für einen Weg entscheiden.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt