28. Opfer bringen

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Leise schlichen wir wieder auf den Flur, in dem noch die bewusstlosen Wachen lagen. Anna betrachtete mein Werk und runzelte die Stirn. Sie schwieg jedoch.
„Hast du sie?", hörte ich Nags Stimme.
„Wir sind auf dem Rückweg."
„Sehr gut. Aber beeilt euch, bald ist Wachwechsel und wir wollen hier vorher raus sein."
„Verstanden. Anna, Aria, wir müssen uns beeilen."
„Mit wem hast du da gesprochen?", fragte Anna verwirrt.
Ich wies auf das Headset. „Mein geheimnisvoller Helfer. Erkläre ich dir später, ist ein lange Geschichte."
Anna nickte langsam. „Alles klar."

Der Weg zurück war wesentlich einfacher, als hineinzukommen. Es schien so, als hätte niemand das Fehlen der Wachen bemerkt und uns kam auch sonst niemand entgegen. Wir mussten den Weg lediglich zurückgehen.

Wir hatten es fast geschafft, da hörte ich plötzlich einen lauten Alarm. Stocksteif blieb ich stehen.
„Nag? Was war das?", fragte ich verunsichert.
„Ich fürchte, wir haben ein kleines Problem."
„Ein Problem?" Ohne dass ich es verhindern konnte, zitterte meine Stimme.
„Lauft!" Nags Stimme klang seltsam verzerrt und ich hatte Mühe, das Wort zu verstehen. Als es jedoch zu mir durchdrang, reagierte ich sofort und rannte los. Anna und Aria folgen mir.

Das Tor war offen und ich wollte mich gerade freuen, da kam etwa ein Dutzend bewaffnete Wachen auf uns zu und versperrte uns den Weg.
„Verdammt!", fluchte ich.
„Was machen wir jetzt?" Anna klang panisch und ich musste mir Mühe geben, nicht ebenfalls in Panik auszubrechen.
„Nag! Was soll ich tun?"
„Bleib wo du bist! Hilfe ist unterwegs."
Ich betete, dass diese Hilfe rechtzeitig kam.
„Malina, sag doch was!", flehte Anna. Einige Männer kamen bedrohlich näher.
„Bleibt hinter mir. Und lasst euch nicht fangen!" Dann zog ich mein Schwert und überprüfte das Betäubungsgerät. Es befand sich noch immer sicher in meiner Tasche. Doch mit so vielen Wachen konnte ich es nicht aufnehmen. Blieb zu hoffen, dass ich lange genug aushalten konnte, bis Hilfe da war.
Ich wurde von mehreren Wachen gleichzeitig angegriffen. Sie versuchten schon gar nicht mehr mit mir zu reden, sondern gingen gleich in den Angriff über. Das war kein fairer Kampf. Aber ich musste aushalten; zumindest eine Weile.
Die Wachen waren stark und gut trainiert. Ich war froh, dass sie Anna und Aria in Ruhe ließen, solange ich sie genug ablenkte. Doch meine Kräfte neigten sich dem Ende zu. Ich hatte kaum geschlafen und schon zu viel gekämpft für eine Nacht. Doch ich hatte beschlossen, so viel Widerstand zu leisten wie möglich.
Leider wurde ich auch unkonzentrierter. Meine Gegner schienen das zu bemerken. Ich verpatzte mehrere Paraden und wurde schlampig in der Ausführung. Dadurch gelang es einem von ihnen, mir das Schwert aus der Hand zu schlagen. Ich biss mir auf die Lippe. Nun war es vorbei. Nein, es durfte nicht vorbei sein! Ich wollte kämpfen! Ich war nicht so weit gekommen, um mich nun einfach zu ergeben!
„Nehmt sie fest!", sagte einer der Männer.
Zwei Wachen kamen auf mich zu. Doch ich hatte noch meine Geheimwaffe. Als sie es am wenigsten erwarteten, zog ich das Betäubungsgerät aus meiner Tasche und schaffte es, eine der beiden Wachen zu betäuben. Jedoch waren nun meine Gegner gewarnt und wieder wachsam. Sie kamen auf mich zu, ich wich zurück. Plötzlich schrien zwei Wachen auf und fielen zu Boden.
Die Aufmerksamkeit aller lag nun auf ihnen. Und ich sah auch den Grund für ihren Zusammenbruch: Aus ihren Körpern ragte ein Pfeil und Blut sammelte sich auf dem Boden. Ich schrie. Dann ging alles so schnell. Leute rannten panisch hin und her. Vielleicht kam es mir auch nur so vor. Ich wurde angerempelt, fiel zu Boden. Das Headset rutschte von meinem Kopf. Ich bekam es nicht mehr zu greifen. Die Geräusche um mich nahm ich nur noch gedämpft wahr.
„Malina, steh auf!" Ich wurde am Arm gepackt und hochgezogen. Plötzlich waren Anna und Aria auch da. Sie rannten nach draußen. Jemand zog mich mit. Doch erst draußen erkannte ich, wer es war.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Seine eisblauen Augen musterten mich. Caleb. Doch schon überwältigte mich die Wut.
„Du Verräter! Nein, Mörder! Du hast sie umgebracht!" Er hielt mich noch immer fest, doch ich riss mich los und stellte mich schützend vor Anna.
Ein Schatten huschte über Calebs Gesicht. Ich erwartete, dass er etwas sagte, doch das tat er nicht. Stattdessen kam er auf uns zu. Ich wich weiter zurück. Doch Caleb ignorierte Anna und mich völlig, sondern kam auf Aria zu. Sie wollte ebenfalls zurückweichen, doch er packte sie am Handgelenk.
Hastig suchte ich in meiner Jacke nach dem Betäubungsgerät, doch es war verschwunden. Jetzt sah ich auch, wo es war. Caleb hatte es. Er musste es mir irgendwie abgenommen haben. Doch nun wandte er es an Aria an, die noch versuchte, sich zu wehren, dann jedoch zusammenbrach. Caleb hob sie hoch und ging wieder auf das Gefängnis zu. Im Inneren war alles ruhig, doch ganz hinten in dem Gang sah ich Wachen auf uns zu kommen.
Bevor Caleb hineinging, drehte er sich nochmal zu mir um. „Malina, ich bin kein Verräter. Ich bitte dich, mir einfach zu vertrauen."
„Wie könnte ich das?" Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie weg. Vor Caleb würde ich nicht weinen!
„Was habe ich je getan? Ich weiß jetzt, dass es sich um ein Missverständnis zwischen Aria und mir gehandelt hat. Ich erkläre es dir; irgendwann. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Lauft! Ich halte sie auf."
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, ging Caleb ins Innere des Gefängnisses und das Tor schloss sich vor meinen Augen. Ich rannte hin und hämmerte mit meinen Fäusten dagegen.
„Malina, was versuchst du da?", fragte Anna und zog mich zurück.
„Er hat Aria! Wir müssen sie retten!"
„Nein, wir müssen jetzt uns retten. Es hilft ihr nämlich auch nicht, wenn wir uns fangen lassen!"
Verzweifelt nickte ich. Anna hatte ja recht. Ich rannte in die Richtung, aus der ich gekommen war, Anna folgte mir.

Ich hatte aus meinen Erfahrungen gelernt und mir diesmal den Weg gemerkt. So fand ich problemlos zurück ins Stadtzentrum. Die ersten Leute waren schon auf den Straßen. Ich hoffte, wir fielen nicht allzu sehr auf.
„Wohin sollen wir jetzt?", fragte Anna.
„Ich weiß nicht. Verstecken wir uns und retten Aria oder fliehen wir?"
„Lass uns erstmal aus UEC verschwinden."
„Du willst sie zurücklassen?!"
„Erkläre ich dir später."
Ich beschloss, Anna zu vertrauen und suchte die Karte meiner Mutter aus meiner Jacke. Der Weg war darauf ziemlich genau beschrieben und bald hatte ich den ersten Anhaltspunkt gefunden.
„Bald sind wir hier weg", sagte ich zu Anna.

Tatsächlich schafften wir es ohne Zwischenfälle, aus UEC zu entkommen. Wir waren wieder bei dem Eingang, den Aria uns gezeigt hatte.
„Wo gehen wir jetzt hin?", fragte ich.
„Wir brauchen erstmal ein Versteck. Am besten in der Nähe der Stadt, denn wir brauchen bald Vorräte. Oder hast du welche?"
Ich schüttelte den Kopf. Anna hatte den Rucksack gehabt und natürlich hatte man ihn ihr abgenommen.
„Weißt du noch, wo es zur Stadt geht?"
Sie schüttelte den Kopf. Da fiel mir das Handy meiner Mutter ein. Ich zog es aus der Jacke und öffnete eine Landkarte.
„Du kannst uns führen? Ich bin nicht so schnell im Kartenlesen", sagte ich und reichte Anna das Handy.
Sie grinste. „Selbstverständlich kann ich das. Folge mir einfach."

Während wir durch ein bewaldetes Gebiet gingen, erzählte ich Anna, was passiert war. Dabei versuchte ich, mich an jedes noch so kleines Detail zu erinnern, um es ihr berichten zu können. Als ich geendet hatte, schwieg Anna eine Weile.
„Puh, nicht schlecht", sagte sie dann. „Und deine Mutter wollte wirklich, dass du ein neues Leben anfängst?"
Ich nickte.
„Und trotzdem hat sie das alles vorbereitet? Ich meine, wenn sie wirklich gewollt hätte, dass du sie niemals findest, hätte sie dir keinen einzigen Hinweis geben müssen."
Ich überlegte. „Stimmt. Aber ich bin froh, dass sie es getan hat. Und jetzt erzähl, was ist bei dir passiert?"
„Also, nachdem du die Klippe runtergefallen bist, bin ich irgendwann zurück zu Aria gegangen. Doch kaum war ich da, sind diese Leute in den Raum gestürmt und haben uns festgenommen. Mehrmals hat man uns befragt, aber wir haben eisern geschwiegen. Sie konnten dann zwar irgendwann Arias Identität bestimmen, aber meine ja nicht. Aber ich glaube, langsam hat sich deren Geduld dem Ende zugeneigt. Zur Zeit war ihr Anführer – also dein Vater – wohl nicht da; irgendwelche geschäftlichen Angelegenheiten. Er wollte sich persönlich mit uns beschäftigen und ich glaube irgendwie, dass das nicht mehr so angenehm gewesen wäre. Aber zum Glück bist du dann ja gekommen."
„Stimmt. Aber ohne Nags Hilfe hätte ich es vermutlich nicht geschafft. Wir müssen noch überlegen, wie wir Aria befreien. Caleb, dieser Mistkerl! Sie ist doch seine Schwester!"
„Was das angeht, wollte ich nochmal mit dir sprechen."
„Ja?" Ich sah zu Anna, doch sie mied meinen Blick.
„In der Zelle hatte ich viel Zeit, mich mit Aria zu unterhalten. Vielleicht habe ich sie ein bisschen über Caleb ausgefragt. Aber der Punkt ist, ich habe nicht mehr den Eindruck, dass er wirklich ein Verräter ist."
„Was? Wie meinst du das?"
„Naja, Aria hat ziemlich viel von ihm erzählt. Zwar, dass er schon immer etwas geheimnistuerisch war, aber immerhin ihr großer Bruder. Und sie haben sich auch so gut verstanden wie echte Geschwister. Er hat immer zu ihr gestanden, sie war der festen Überzeugung, dass Caleb sie da rausholen würde."
„Aber sie hat ihn angeprangert!"
„Sie hat aber auch gesagt, dass sie sich getäuscht haben könnte. Und bisher hat Caleb nichts getan, was dem widerspricht."
„Er hat Aria zurück ins Gefängnis gebracht!"
Nun sah Anna mich doch an. „Ich denke, er hat einen Plan."

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt