2. Anna

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Ich hatte mir noch nicht überlegt, was ich sagen wollte. Sollte ich das Mädchen überhaupt ansprechen? Ich kannte es ja gar nicht. Zudem sprach ich nicht so oft fremde Leute an. Was sollte ich denn sagen? Einige Zeit beobachtete ich das Mädchen nur. Es hatte blondes Haar und trug ein kurzes Sommerkleid. Was sollte ich nur tun?
Ich überlegte noch, da nahm das Mädchen mir die Entscheidung ab. Es kam auf mich zu und fragte: „Entschuldigung, hast du meine Kette hier gesehen? Sie ist golden und mein Name ist eingraviert. Ich muss sie gestern hier verloren haben." Es schien traurig über den Verlust zu sein. Die Kette schien dem Mädchen viel zu bedeuten.
Ich zog meinen Fund von gestern aus der Tasche. „Ist es diese Kette?"
„Oh Gott, ja! Das ist sie!" Vorsichtig nahm das Mädchen, von dem ich nun wusste, dass es Anna hieß, mir die Kette aus der Hand. „Kannst du sie mir umlegen?"
„Ja klar, gerne."
Anna gab mir die Kette zurück. „Wie du jetzt wahrscheinlich weißt, heiße ich Anna. Und du?"
„Ich bin Malina."
„Es freut mich, dich kennenzulernen." Sie lächelte und drehte sich, nachdem sie die Kette wieder umhatte, zu mir um. „Als Dankeschön lade ich dich auf eine Kugel Eis ein!"
„Ach, das ist doch nicht nötig." Verlegen sah ich zu Boden. Bisher hatte mich noch nie jemand auf eine Kugel Eis eingeladen - was wahrscheinlich ziemlich traurig war...
„Doch ist es! Keine Widerrede! Du hast jetzt doch Zeit, oder?"
„Ähm... ich denke schon."
„Gut, dann komm! Ich weiß, wo wir das beste Eis der gesamten Stadt essen können!"
„Na, da bin ich aber gespannt!" Nun lächelte auch ich. Dann gingen wir los.

Nur wenig später saßen wir mit einem Eisbecher in einem kleinen Eiscafé im Stadtzentrum.
„Wohnst du auch hier in Syracuse oder bist du nur zu Besuch?", fragte Anna.
„Nein, ich wohne hier. Du auch?"
„Ja, schon mein Leben lang. Doch langsam würde ich gerne reisen und die Welt sehen. Ich bin bisher noch nie woanders im Urlaub gewesen! Kaum zu glauben, oder?"
„Doch, ich war auch noch nie woanders."
Anna musterte mich mit ihren blauen Augen interessiert. „Warum nicht?"
„Ich könnte dir dieselbe Frage stellen!"
Anna lachte. „Da hast du recht. Aber ich kenne den Grund nicht. Ich habe meine Eltern schon öfter gefragt, ob wir verreisen könnten, doch das haben sie immer entschieden abgelehnt. Ja, wir sind nicht reich, aber für einen kleinen Urlaub sollte es doch reichen. Und du?"
Ich überlegte, was ich antworten sollte. Zum einen wollte ich Anna nicht anlügen, aber ich wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ich Waise war. „Reisen kommt für mich nicht infrage. Aber sobald ich volljährig bin und mein eigenes Geld verdiene, will ich mehr von der Welt sehen." Tatsächlich hatte ich schon öfter von anderen Orten geträumt. Wenn man sein Leben lang nur an einer Stelle war, wollte man irgendwann nicht mehr dort bleiben. Katie und ich hatten geplant, gemeinsam zu reisen. Aber daraus wurde nun wohl nichts mehr.
„Und wie alt bist du jetzt?"
„Fünfzehn. Es dauert also noch eine Weile. Und du?" Ich schätzte, dass sie etwa in meinem Alter sein musste.
„Ich bin schon sechzehn. Trotzdem kommt es mir noch wie eine Ewigkeit vor, bis es endlich so weit ist." Verträumt starrte Anna in die Luft und schob sich einen Löffel Eis in den Mund.
„Weißt du schon, was du alles sehen willst?"
„Alles!" Anna lachte wieder und ich musste lächeln. „Solange ich endlich hier weg komme. Ich hab sogar schon einmal daran gedacht abzuhauen; einfach meinen Rucksack zu packen und wegzugehen. Aber bisher fehlte mir dazu der Mut."
„Du wolltest abhauen?!" Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Anna hatte schließlich eine Familie. Zwar hatte ich auch schon einmal daran gedacht, aus dem Kinderheim zu fliehen, aber das war etwas anderes als von seinen Eltern wegzulaufen. Diese sorgten sich doch aufrichtig. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als eine Familie; niemals würde ich diese verlassen.
„Pst, nicht so laut. Das muss nicht jeder mitbekommen. Es war ja nur eine Idee; ein Tagtraum, der immer einer bleiben wird. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, warum ich dir das erzähle." Annas gute Laune war wie fortgeblasen und ich bekam ein schlechtes Gewissen.
„Nein, so war das nicht gemeint. Ich habe auch schon einmal daran gedacht. Aber warum willst ausgerechnet du abhauen?"
„Ich könnte dich dasselbe fragen!" Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Das... das ist etwas anderes, aber du hast eine Familie - Eltern - du kannst glücklich sein! Warum willst du das so einfach wegwerfen?!" Ich sprang auf und stützte mich mit den Händen auf den Tisch. Dabei realisierte ich zu spät, was ich gesagt und Anna damit verraten hatte.
„Warte, du... du hast keine Familie?"
Ich konnte Annas Gesichtsausdruck nicht deuten und fürchtete mich davor, wie sie reagieren würde. Würde sie mich nun wegstoßen? Ich sank wieder auf meinen Stuhl zurück. „Ja", antwortete ich, „ich bin Waise."
„Warum hast du das nicht schon früher erzählt?" Anna wirkte erstaunt, jedoch nicht abgestoßen.
„Das ist nun wirklich nichts, womit man prahlt!"
„Hm... Da hast du wohl recht. Und du wohnst in einem Kinderheim?" Im Gegenteil, sie sah sogar ziemlich interessiert aus.
„Ja, schon mein ganzes Leben lang."
„Und deine Eltern? Weißt du etwas von ihnen?"
„Nein. Als ich ein Baby war, haben sie mich in einem Korb vor das Kinderheim gelegt."
„Und hast du schon einmal versucht, etwas über sie herauszufinden?"
„Ehrlich gesagt nicht. Allerdings scheint mir das auch ziemlich unmöglich."
„Warum nicht? Bist du denn gar nicht neugierig?"
„Natürlich bin ich neugierig! Diese Fragen verfolgen mich schon mein ganzes Leben, aber ich weiß, dass ich darauf keine Antwort bekommen werde. Nicht einmal die Leiter des Kinderheims wissen etwas über meine Herkunft. Man hat nach meinen Eltern gesucht, sie aber nicht gefunden. Wieso sollte ich dann etwas finden?"
„Und du hast es nicht einmal versucht?"
„Nein, bisher habe ich versucht, ein so normales Leben wie möglich zu führen. Meine beste Freundin hat mich vergessen lassen, dass ich eine Waise bin...." Ich brach, schon wieder mit den Erinnerungen an Katie konfrontiert, ab.
„Wo ist deine Freundin jetzt?"
„Sie wurde adoptiert. Du glaubst gar nicht, welches Glück sie hatte. Normalerweise finden so alte Kinder wie ich keine Familie mehr." Für einige Zeit hatte Anna mich die harte Realität vergessen lassen, nun holte sie mich wieder ein. Gelichzeitig spürte ich eine seltsame Verbundenheit zu Anna. Es war, als würde ich sie schon ewig kennen und könnte ihr alles erzählen. „Jetzt erzähle mir, warum du von zuhause abhauen willst."
„Nun, es ist nicht so, dass ich Probleme mit meinen Eltern habe oder endlich von ihnen weg will. Die beiden sind echt klasse, doch oftmals auch sehr distanziert und unnahbar. Sie sind oft weg und meistens bin ich mit den Tieren alleine. Wenn ich dann versuche, auf meine Eltern zuzukommen, dann blocken sie mich total ab. Ich weiß einfach nicht, was ich falsch gemacht habe! Naja, manchmal habe ich das Gefühl, nicht dorthin zu gehören. Als wäre ich eine Fremde in meiner eigenen Familie; als würde ich meine Eltern gar nicht kennen! Ich brauche einfach etwas Abstand."
Ich versuchte mir vorzustellen, wie das sein musste. Vielleicht war zu glauben, dass die Eltern einen nicht lieben sogar noch schlimmer als gar keine zu haben.
„Jetzt weißt du ehrlich gesagt mehr als alle meine anderen Freunde", gestand Anna und lächelte schüchtern.
„Dito." Ich spürte wieder diese seltsame Verbundenheit, stärker als je zuvor. Dabei kannte ich Anna doch erst seit heute! Ob sie im Moment dasselbe empfand wie ich?
„Malina, lass uns zusammen weggehen sobald wir alt genug sind."
„Aber wir kennen uns doch erst seit einigen Stunden."
„Ja, und trotzdem kennst du mich besser als meine Eltern. Außerdem dauert es ja noch eine Weile, bis es tatsächlich so weit ist."
„Ich würde jetzt gerne zustimmen, aber ich will nicht, dass du mir etwas versprichst, was du im Nachhinein doch nicht hältst."
Anna schien zu überlegen. „Gut, dann können wir uns ja morgen wiedersehen. Ich nehme dich mit zu mir und zeige dir, wie ich so wohne."
„Aber ich weiß ja gar nicht, wo du wohnst."
„Dann hole ich dich vom Kinderheim ab. Es gibt nur ein einziges in der Stadt, also sollte ich das finden. Was denkst du?"
„Einverstanden."
Anna lächelte wieder. „Gut, dann komme ich so gegen drei Uhr vorbei."
Ich nickte und lächelte ebenfalls. Dann bezahlte Anna und wir gingen unserer Wege - Anna zurück zu ihren Eltern und ich wieder ins Kinderheim. Dabei fragte ich mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Im Kinderheim wurde ich schon erwartet. Katharina hatte wahrscheinlich geglaubt, dass ich nicht zurückkehren würde und sie mich suchen müsse. Doch ich war hier. Allerdings ging ich sofort in mein Zimmer und verkroch mich im Bett.
War es Schicksal oder Zufall, dass Anna und ich uns genau jetzt begegnet waren? Noch dazu, dass wir uns schon so gut kannten. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, ich würde sie schon eine Ewigkeit kennen, dabei wusste ich fast gar nichts über sie! Und sie wusste genauso wenig über mich und trotzdem hatte sie mir schon vorgeschlagen mit mir fortzugehen. Ob es wirklich eine gute Idee war, sich auf sie einzulassen? Sie konnte mich enttäuschen und es würde schlimmer werden, je mehr sie von mir wusste und je näher ich sie an mich heranließ. Ich wurde schon oft genug enttäuscht. Aber vielleicht war sie auch das Beste, was mir passieren konnte. Vielleicht war Katie doch nicht eine richtige Freundin. Wer weiß, was die Zukunft bringen würde?
Doch Katie war immer für mich da gewesen. Selbstverständlich war sie meine beste Freundin. Sie war meine Seelenverwandte, meine Schwester! Aber warum hatte ich mich Anna dann heute näher gefühlt als Katie je zuvor? Mit Katie hatte ich aber auch nie darüber geredet, wie ich mich gefühlt hatte. Sie hatte sich sehr für ihre eigene Vergangenheit interessiert. Bisher dachte ich, sie hätte meine Vergangenheit nicht erwähnt, weil sie wusste, dass es mich traurig machte, vielleicht hatte sie es aber auch gar nicht interessiert. Wieso sonst sollte sie sich nicht mehr melden?
In diesem Moment fasste ich einen Entschluss. Ich wollte sehen, wohin die Zukunft mich führte. Ich würde mich auf Anna einlassen und auch das Risiko eingehen, dass sie mich enttäuschte. Das Leben bestand sowohl aus Enttäuschungen, als auch aus schönen Momenten, doch wenn ich das Risiko enttäuscht zu werden nicht einging, würde ich auch keine schönen Momente mehr erleben sondern mich ewig hier in diesem Zimmer verziehen. Vielleicht hatte Katharina zumindest teilweise recht. Ich musste nach vorne sehen und dem Glück eine Chance geben. Wer weiß, was ich alles erleben würde.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt