9. Buffalo

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Mrs. Thompson weckte mich am nächsten Morgen viel zu früh. Gähnend kämpfte ich gegen den Drang, mich einfach wieder hinzulegen und weiterzuschlafen. Dann erinnerte ich mich jedoch an die Ereignisse der letzten Nacht und war sofort hellwach. Um zu prüfen, dass das tatsächlich nicht nur ein Traum gewesen war, tastete ich nach dem Medaillon. Erleichtert atmete ich auf, als ich feststellte, dass es noch da war. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchflutete mich.
Meine Mutter hatte mich nicht einfach so weggegeben. Sie hatte mir sogar Hinweise hinterlassen, wie ich sie finden konnte. Und das wollte ich unbedingt! Was hatte ich schon zu verlieren? Wenn Annas Eltern mich adoptieren würden, könnte ich sie verlieren. Vielleicht hatte ich in ihnen eine Familie gefunden. Ich könnte mich hier durchaus wohlfühlen. Aber was war mir wichtiger? Meine Mutter, die ich vielleicht niemals kennenlernte oder Annas Familie? Konnte ich mich tatsächlich auf diese Hinweise verlassen? Was war, wenn ich für sie alles aufgab und dann doch enttäuscht wurde? Wollte ich das tatsächlich riskieren? Nein, das wollte ich nicht, aber ich musste.
Diese Ungewissheit über meine Herkunft verfolgte mich schon seit meiner Geburt. Ich wollte endlich wissen, was Sache war und konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Es ging einfach nicht! Ich hoffte, Anna würde mich verstehen.
Ich überlege, wie ich vorgehen wollte. Dann kam mir Caleb in den Sinn. Er hatte angeboten, mir zu helfen. Ich wusste, dass das riskant war, aber das war diese Aktion sowieso. Trotzdem brauchte ich einige Dinge. Ich hatte kein Geld, aber ich konnte mir Essen und Trinken hier aus dem Haus nehmen. Verdammt. Wenn ich etwas mitnehmen wollte, musste ich Annas Eltern bestehlen. Das wollte ich nicht!
Aber wenn ich meine Mutter tatsächlich finden wollte, dann musste ich das. Was brauchte ich noch? Ein Taschenmesser wäre vermutlich ganz hilfreich. Kleidung zum Wechseln, Seife, ein Handtuch, ein Feuerzeug oder Streichhölzer, einen Rucksack, meinen Korb, ein Zelt... Halt, das konnte ich doch niemals alles tragen! Ich durfte nur das mitnehmen, was ich auch wirklich tragen konnte.
Also brauchte ich einen Rucksack, ein Taschenmesser, etwas zum Feuer machen und einmal Wechselklamotten. Den restlichen Platz im Rucksack musste ich mit Nahrung ausfüllen. Außerdem brauchte ich eine Flasche, in die ich etwas Wasser füllen konnte.
„Ach, hier bist du. Wann willst du aufbrechen?" Anna setzte sich neben mich aufs Bett.
„Was? Woher...?"
„Es war doch klar, dass du gehen musst. Aber ich begleite dich!"
Ich musste lächeln. "Danke. Aber bist du dir wirklich ganz sicher?"
„Natürlich bin ich das!"
„Du bist toll!" Ich fiel Anna um den Hals und wusste, dass ich ihr niemals genug würde danken können.
„Schon gut, schon gut. Ich habe nochmal über diesen Caleb nachgedacht. Er ist zwar ein Idiot, aber er scheint tatsächlich etwas über deine Familie zu wissen."
„Ist das dein Ernst?" Ich strahlte Anna an.
„Leider ja. Also, wann willst du aufbrechen?"
„Am liebsten jetzt, aber ich weiß, dass das nicht möglich ist."
„Stimmt. Vor allem, da dir immer noch Bettruhe verschrieben ist. Ich denke, sobald du wieder vollständig gesund bist, können wir los."
„Und bis dahin können wir planen."
„Genau."

Wir waren noch den gesamten Tag mit der Planung beschäftigt. Am Abend ließen wir uns dann müde auf die Couch in Annas Zimmer fallen.
„Zeig mir mal das Medaillon. Ich habe es gestern gar nicht so richtig gesehen", sagte Anna plötzlich.
Ich nahm es vorsichtig ab und reichte es Anna. Diese betrachtete es eingehend.
„Oh wow, es ist echt schön. Denkst du, dass das echtes Silber, beziehungsweise ein echter Edelstein ist?"
„Ich habe keine Ahnung."
„Vielleicht können wir ja mal einen Juwelier fragen." Sie drehte das Schmuckstück hin und her. „Kann man es offen?"
Daran hatte ich bisher noch gar nicht gedacht. „Ich weiß es nicht."
Ich nahm Anna das Medaillon wieder aus der Hand und fand an einer Seite tatsächlich eine kleine Kerbe, an der es sich öffnen ließ. Zum Vorschein kam ein Foto, das ein Paar zeigte.
„Sind das deine Eltern?", fragte Anna, dabei fragte ich mich genau das gleiche.
„Vermutlich. Ich weiß es nicht." Wie gebannt starrte ich auf den Mann und die Frau. Auf dem Bild sahen die beiden noch ziemlich jung aus, aber das musste ja auch schon 16 Jahre her sein. Ich ging jetzt einfach davon aus, dass das meine Eltern waren. Wieso sollten sie es auch nicht sein? Sie trugen seltsam altertümliche Kleidung, sahen aber sehr nett aus. Der Mann hatte genauso dunkelbraune Haare wie ich. Er sah freundlich und großherzig aus. Die Frau wirkte sogar noch jünger. Sie hatte orangefarbenes Haar und Sommersprossen und sah ebenso freundlich wie der Mann aus. Zusammen wirkten sie so glücklich und ich fragte mich erneut, was Schreckliches passiert sein konnte, um diese Harmonie zu zerstören und dem Paar sein Kind wegzunehmen. In diesem Moment wünschte ich mir so sehr wie nie, dass ich sie nur ein einziges Mal sehen konnte. Ich wünschte mir so sehr, dass sie mich in den Arm nehmen könnten, dass ich mich einmal wie ein normales Mädchen in einer normalen Familie fühlen konnte.
„Wir finden sie", flüsterte Anna mir zu und legte ihren Arm über meine Schulter. Ich konnte ihr nur schwach zulächeln.

Die nächsten Tage verliefen ziemlich langweilig. Irgendwann hatten Anna und ich alles geplant und mussten abwarten. Dabei wollten wir beide am liebsten sofort los. Ihre Eltern waren heute noch einmal mit mir zum Arzt gefahren, wo uns gesagt wurde, dass meine Bettruhe vorbei war; endlich. Danach war Anna mit mir noch zum Juwelier gegangen. Dort hatten wir erfahren, dass mein Medaillon tatsächlich aus echtem Silber war und der Stein in der Mitte ein Saphir. Die sollten ja bekanntlich Glück bringen. Etwas, das ich momentan wirklich benötigte.
Doch dass ich wieder gesund war, bedeutete auch, dass Anna und ich am nächsten Tag losgehen konnten. Wir schlossen die Tür ihres Zimmers ab und begannen sogar schon damit, unsere Sachen zu packen, als es an der Tür klingelte. Anna winkte ab, doch dann rief Mrs. Thompson nach uns.
Seufzend versteckte Anna den Rucksack und dann gingen wir nach unten. Eine ältere Frau stand vor der Tür. Sie hatte ihre Haare zu einem strengen Dutt gebunden und war mir sofort unsympathisch.
„Guten Tag, ich bin Mrs. Meyer vom Jugendamt. Du musst Anna sein und dann bist du Malina", stellte sie fest und schüttelte uns lächelnd die Hand.
„Ja, aber was wollen Sie?", fragte Anna barsch. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit.
„Es tut mir leid, dass ich euch so überfalle, aber wir haben einen Platz in einem Kinderheim für Malina gefunden."
Diese Worte fühlten sich an, wie ein Schlag in die Magengrube.
„Sie können sie jetzt nicht mitnehmen!", schrie Anna und war Mrs. Meyer zornerfüllte Blicke zu.
„Anna, es ist besser so. Ich verspreche dir, dass du sie besuchen darfst." Mrs. Thompson legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Ich hatte mich also getäuscht. Annas Eltern hatten mich nur aus Nettigkeit aufgenommen und sowieso vorgehabt, mich irgendwann wieder loszuwerden. Mein gute Laune war wie weggeblasen.
„Wo wollen Sie sie denn überhaupt hinbringen?", knurrte Anna.
„Nach Buffalo."
„Was? Bis man dort ist, dauert es ja selbst mit dem Auto eine Ewigkeit!"
„Anna, bitte etwas höflicher", tadelte Mrs. Thompson sie.
„Ich will jetzt aber nicht höflich sein! Genauso wenig wie ich will, dass ihr Malina wegbringt!"
„Was sagst du denn dazu?", fragte Mrs. Meyer mich.
Ich zuckte mit den Schultern. „Es bringt doch eh nichts, wenn ich jetzt protestiere."
Das Schweigen sah ich als Bestätigung.
„Holst du bitte deine Sachen?", fragte Mrs. Meyer, doch sie duldete keinen Widerspruch.

Geknickt schlenderte ich ins Gästezimmer.
Anna kam mir hinterher. „Willst du etwa so schnell aufgeben? Komm, verschwinden wir jetzt sofort!"
Sie ging zum Fenster und riss es auf. „Los, lauf, ich komme gleich nach, wir treffen uns im Park!"
Ich wollte gerade aus dem Fenster klettern, da kam Mrs. Thompson ins Zimmer und warf uns strenge Blicke zu. Sie nahm den Korb und schob mich dann in den Flur, in dem Mrs. Meyer schon wartete. Mürrisch nahm ich meinen Korb und ließ mich von Mrs. Meyer zu ihrem Auto führen.
„Du hast alles?", fragte sie. Ich nickte nur und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Auf der Fahrt versuchte Mrs. Meyer mehrfach, mich in ein Gespräch zu verwickeln, doch mir war nicht nach Reden. Schließlich gab sie es auf.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt