17. Es geht steil bergab

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Irgendwann wurde der Schacht breiter und auch höher, sodass Anna und ich aufstehen konnten und auch die Taschenlampe wieder vorholten. Mittlerweile war mir so kalt, dass ich zitterte.
„An Heizungen hat deine Mutter wohl nicht gedacht", scherzte Anna. Doch mir war nicht nach Spaßen zumute und ich konnte mich nicht einmal zu einem Lächeln hinreißen lassen. Ich war müde. So langsam machte sich bemerkbar, dass wir die Nacht kaum geschlafen hatten.
„Hoffentlich sind wir bald da." Ich seufzte, nahm die Taschenlampe und ging weiter.
Es war noch immer verdammt dunkel und selbst mit Taschenlampe konnte ich das Ende des Tunnels nicht erkennen. Ich warf einen Blick an die Decke. Alles war ziemlich eng und ich war froh, dass ich keine Platzangst hatte. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass jeden Moment einfach alles zusammenbrechen und uns unter sich begraben konnte. Doch wenn es tatsächlich so gefährlich wäre, hätte meine Mutter mich wohl kaum hierher geschickt.
„Malina, Vorsicht!" Plötzlich wurde ich von Anna nach hinten gerissen und landete unsanft auf dem Boden.
„Was-?" Ich sah mich nach Anna um. Sie lag neben mir auf dem Boden. „Was sollte das?"
In meiner Stimme schwang Gereiztheit mit.
„Sieh doch, vor uns!" Anna leuchtete mit der Taschenlampe durch den Schacht, der nur wenige Zentimeter vor uns in einem großen Abrunde mündete.
Mir blieb fast das Herz stehen, als ich erkannte, dass ich einfach weitergelaufen wäre, wenn Anna mich nicht zurückgehalten hätte. „Danke."
„Kein Problem. Dafür sind Freunde schließlich da. Bleibt nur die Frage, wie wir dort rüber kommen."
Ich krabbelte näher an den Abgrund heran und starrte in die Tiefe. „Runterspringen kommt wohl nicht in Frage. Klettern könnte auch etwas dauern."
Auf der anderen Seite sah ich die Tunnelöffnung. Aus ihr drang Licht, als wollte sie uns verhöhnen. Wir mussten kurz vor dem Ziel sein!
„Wie tief es da wohl runtergeht?", fragte ich.
„Das lässt sich herausfinden!" Anna nahm einen kleinen Stein und warf ihn den Abgrund herunter. Erst viele Sekunden später hörten wir den Aufprall.
„Ich könnte dir das jetzt berechnen, aber ich würde mal sagen, es ist zu tief."
Ich nickte nur, wobei mein Gehirn auf Hochtouren lief und überlegte, wie wir am besten auf die andere Seite kommen könnten. Mit dem Seil würde es wohl nicht klappen und der Erste-Hilfe-Koffer würde uns auch kaum weiterbringen.
„Kannst du nicht irgendetwas zaubern?", fragte Anna.
„Ich hab doch keine Ahnung davon."
„Versuch es doch mal. Vielleicht klappt es ja."
„Und was sollte ich deiner Meinung nach jetzt tun?"
„Hör auf deinen Instinkt?" Sie sah mich fragend an.
„Danke, Anna, das hilft mir jetzt weiter!"
Sie lachte.
Dann tat ich ihr aber den Gefallen und versuchte tatsächlich zu zaubern.
„Aber wehe du lachst!", drohte ich ihr noch und wandte mich dann der Schlucht zu. Was sollte ich eigentlich damit erreichen? Vielleicht konnte ich ja irgendwie eine Brücke erschaffen. Caleb hatte gesagt, Magie würde nicht so funktionieren, wie ich es mir vorstellte. Und ich würde keinen Zauberspruch brauchen.
Also schloss ich die Augen und streckte meine Hände in Richtung Schlucht aus. Ich versuchte, mir eine Brücke aus Stein so bildlich wie möglich vorzustellen. Sie musste ja nicht perfekt sein, wir mussten nur hinüberkommen. Ein einfacher Übergang würde also auch reichen.
Ich wusste nicht, was ich genau tun sollte. Also dachte ich einfach so fest ich konnte an diesen Übergang. Plötzlich spürte ich ein warmes Kribbeln, das sich durch meinen ganzen Körper zog und sich bis in meine Hände ausbreitete.
„Mach weiter, Malina!", hörte ich Anna sagen.
Was passierte da? Ich traute mich nicht, meine Augen zu öffnen, doch so schnell wie das Kribbeln gekommen war, verpuffte es auch wieder. Ich fühlte mich auf einmal kraftlos und ausgelaugt. Meine Beine gaben unter mir nach.
„Malina!"
Plötzlich war Anna neben mir. Ich öffnete meine Augen wieder. Alles sah so aus wie zuvor.
„Was ist passiert?", fragte ich.
„Deine Hände haben plötzlich angefangen zu leuchten. Sonst ist eigentlich nichts passiert. Ich dachte, es würde etwas passieren, aber dann hat es wieder aufgehört."
Ich seufzte. „Also sind wir genau da, wo wir am Anfang waren."
„Du kannst es doch noch einmal versuchen?"
Ich schüttelte den Kopf. „Das bringt nichts."
Anna sah mich empört an. „Woher willst du das wissen? Du hast es doch nur einmal probiert!"
„Ich weiß es einfach! Ich habe keinerlei Erfahrung mit Magie, aber das, was auch immer ich getan habe, hat rein gar nichts bewirkt. Ja, vielleicht habe ich Magie gewirkt, aber ich habe gespürt, wie sie wieder zu mir zurückgekommen ist. Sie hat nichts bewirkt, weil ich nicht stark genug bin. Weil ich nicht weiß, was ich tun kann. Es ist zwecklos!" Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Anna legte ihre Arme um mich und zog mich in eine Umarmung. „Hey, wir finden schon eine Lösung. Irgendwie schaffen wir das."
Aber ich konnte nicht mehr warten! Ich stieß Anna von mir weg. „Nein, ich habe genug davon! Ich will nicht mehr warten! Ich will endlich weiterkommen!"
„Indem du dich bei einem Fehler in den Tod stürzt?!"
„Nein, indem ich die Dinge endlich in die Hand nehme und auch einmal ein Risiko eingehe!"

Mit diesen Worten wandte Malina sich von Anna ab, fixierte den Weg auf der anderen Seite der Schlucht und rannte los. Sie würde das schaffen! Sie war stark genug, sie musste es schaffen! Dann sprang sie.
„Malina!", schrie Anna.
Diese hatte für einen Moment das Gefühl zu fliegen. Sie schaffte es, sie hatte es fast geschaffte. Sie streckte die Hände aus, spürte die kalten Felsen an ihrem Körper. Nein, sie war nicht auf der anderen Seite! Verzweifelt klammerte sie sich mit den Händen an den Felsen fest. Sie musste sich nur noch hochziehen, dann hatte sie es geschafft. Nicht mehr weit, dann wäre sie ihrer Mutter einen Schritt näher! Wie im Wahn suchte sie mit den Füßen nach einem Halt. Sie fand ihn und stemmte sich weiter nach oben. Fast hatte sie es geschafft! Der andere Fuß. Noch ein kleines Stück!
Plötzlich löste sich ihr Fuß aus seinem Halt. Malina war darauf nicht vorbereitet. Sie versuchte verzweifelt, ihren Halt wiederzuerlangen, doch es war vergebens. Sie fiel bereits und erkannt erst jetzt ihren Fehler.
Malina wusste, dass sie jetzt sterben würde. Wie in Zeitlupe entfernte sich das Licht von ihr und sie fiel tiefer und tiefer. Tränen schossen Malina in die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie sich das Leben von ihr entfernte, also schloss sie sie. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Nun würde sie bald bei ihrer Mutter sein.

Anna konnte nur den verzweifelten Versuchen ihrer Freundin sich zu retten zusehen. Sie konnte nichts tun, als Malina in die Tiefe stürzte. Tränen liefen ihr in Strömen übers Gesicht und sie sank auf die Knie. Anna schluchzte hemmungslos, tat aber auch nichts, um ihre Tränen zu verbergen. Wie sehr sie sich wünschte, Malina würde nun hier sein und sie trösten. Doch das war sie nicht.
Das würde sie nie wieder.
Malina war tot.

Diese Erkenntnis traf Anna wie ein Schlag. Sie hatte es zwar gewusst, aber diesen Gedanken auszudenken, war zu viel. Wie hatte Malina das nur gemacht, als sie erfahren hatte, dass so viele ihrer Freunde aus dem Kinderheim gestorben waren; ihre beste Freundin. Dann auch noch ihre Mutter. Aber sie hatte immer weitergekämpft.
Anna ballte ihre Hände zu Fäusten. Malina war so stark gewesen. Wieso musste sie springen? Wieso hatten sie nicht gemeinsam nach einer Lösung suchen können? Doch irgendwie verstand Anna, dass Malina so durchgedreht war. An ihrer Stelle wäre Anna wahrscheinlich schon lange durchgedreht. Wieso hatte Anna nicht gesehen, wie schlecht es Malina ging? Sie hätte sie doch aufhalten können!
Doch Malina wollte unbedingt den Spuren ihrer Mutter folgen. Nun waren sie wieder vereint. Ja, sie waren endlich wieder zusammen. Anna lächelte bei der Vorstellung. Malina hatte das reicht, was sie sich die ganze Zeit über gewünscht hatte. Sie war mit ihrer Mutter zusammen; wiedervereint.
Anna tröstete sich mit dem Gedanken. Mühsam öffnete sie die Augen. Die Welt erschien ihr nun durch einen Tränenschleier. Anna wischte sich die Tränen aus den Augen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf dem Boden lag. Anna ballte wieder die Hände zu Fäusten und raffte sich auf.

Jetzt würde sie stark sein. So wie Malina es gewesen war! Anna packte den Rucksack. Sie würde nicht zulassen, dass Malinas Vater damit durchkam! Das würde ihre neue Aufgabe sein! Sie würde Malinas Tod rächen und wenn es das Letzte war, was sie tat! Sie würde für Malina den Spuren ihrer Mutter folgen und die Pläne von Malinas Vater vereiteln!
Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht, doch sie wischte sie weg. Hier würde sie nicht weiterkommen. Sie musste zurück zu Aria. Irgendwie würden sie einen Weg über die Schlucht finden, die Malina letzten Endes zum Verhängnis wurde; gemeinsam. Sie machte sich auf den Weg.
Als sie den gesamten Schacht zurückgegangen war, stieß sie einfach das Gemälde zur Seite. Aria saß in dem Raum.
„Malina!", sie drehte sich zu dem Gemälde, versuchte Malina auszumachen. „Anna, wo ist Malina?"
Anna schüttelte den Kopf. Dann machte sie sich daran, das Gemälde wieder an die Wand zu hängen. Sie wollte nicht, dass Malinas Tod ihres Vaters wegen für umsonst gewesen war.
„Oh mein Gott, was ist passiert?"
Anna hatte gerade das Bild wieder ordentlich gerichtet und setzte zu einer Erklärung an, da flog die Tür auf und bewaffnete Männer stürmten auf sie zu.
Eine unbändige Wut durchströmte Anna. „Mörder!", schrie sie und rannte auf die Männer zu. Sie griff nach allem, was in ihre Reichweite kam und schrie, trat und kratzte; leistete Widerstand. Tränen vernebelten ihre Sicht. Hände packten sie. Anna wehrte sich, sie war nicht stark genug. Sie musste es sein! Sie wurde zu Boden gedrückt, alles wurde schwarz.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt