6. Der Brief

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Melody zeigte mir später noch, wo die Cafeteria des Krankenhauses war. Ich hatte keinen Hunger, aber sie verlangte, dass ich trotzdem etwas aß. Im Krankenzimmer erklärte sie mir noch einmal, was jetzt passieren würde.
„Wir müssen dich noch bis morgen hierbehalten, dann können wir dich aber entlassen. Ich habe gehört, dass man noch nach einer Unterkunft für dich sucht."
„Und Sie würden mich tatsächlich einfach vor die Tür setzen, wenn Sie nicht rechtzeitig etwas finden?"
„Wir werden etwas finden." Melody lächelte, doch das Lächeln wirkte aufgesetzt. Dann beendete sie das Gespräch und ging wieder.
Ich musste wieder an Katie denken. Sie war für immer von mir gegangen. Ich würde sie nie wieder lächeln sehen, nie wieder mit ihr reden, sie nie wieder umarmen und wir könnten uns nie wieder trösten, wenn eine von uns traurig war. Sie war weg und würde nie wieder kommen. Der Schmerz drohte mich zu erdrücken, doch kein Arzt konnte mich davon befreien.
Zudem hatte ich Angst. Dass Anna es nicht schaffen würde wiederzukommen, dass sie mich tatsächlich auf die Straße setzten würden und dass ich wirklich ganz allein sein würde. Ich hatte bisher immer im Kinderheim gelebt. Wie sollte ich auf einmal ganz auf mich allein gestellt überleben? Ich hatte doch gar kein Geld und keine Arbeit. Was sollte ich dann nur tun?
Nein, so durfte ich nicht denken! Anna würde es schaffen und auch sonst würde sich für alles eine Lösung finden. Ich würde bestimmt nicht auf die Straße gesetzt werden. Anna würde einen Weg finden; irgendwie. Der Staat würde es niemals zulassen, dass so viele Kinder auf einmal obdachlos werden würden.
Ich musste dringend auf andere Gedanken kommen! Nur wie? Mir kam die Melodie von einer Schokoriegelwerbung in den Sinn. Ich musste über die Abstrusität dieses Gedanken grinsen. Katie war gestorben und ich dachte an Schokoriegel? Trotzdem überlegte ich fieberhaft, wie der Text dazu ging, doch er wollte mir einfach nicht einfallen. Währenddessen erklang das Lied in Endlosschleife in meinem Kopf. So wollte ich mich aber nicht ablenken! Wobei ein Ohrwurm wahrscheinlich doch besser war, als die ganze Zeit an Katie zu denken.
Sofort war der Schmerz wieder da. Ich vermisste Katie so sehr. Wir hatten diese Schokoriegel so oft gemeinsam gegessen. Und jetzt musste ich schon wieder an sie denken. Im Stillen verfluchte ich mich selbst. Doch ich würde mich auch schlecht fühlen, wenn ich gar nicht mehr an sie dachte. Das hatte sie auch nicht verdient. Ich wollte sie in Gedanken ehren und sie niemals vergessen; das schwor ich mir. Katie würde immer ein Teil meines Lebens bleiben und eine wundervolle Erinnerung. Dabei war sie viel zu früh aus dem Leben geschieden.
Dafür musste ich meines nun nutzen. Dieser Unfall hatte mir vor Augen geführt, wie kurz das Leben doch war und wie schnell es zu Ende sein konnte. Ich musste jeden Augenblick, der mir geschenkt wurde, nutzen. Schließlich wusste ich nicht, wie lange ich noch hatte. Das konnte niemand wissen. Mich könnte jeden Tag etwas anderes von den Socken hauen, aber davon durfte ich mich nicht entmutigen lassen. Ja, das Leben bestand aus Niederschlägen, aber auch aus schönen Momenten und Ereignissen. Ich durfte die negativen Erfahrungen nicht überhandnehmen lassen. Sie durften nicht mein Leben zerstören und all die schönen Momente überdecken. Denn eigentlich hatte ich schon sehr viel Schönes erlebt. Wenn ich jetzt auf mein bisheriges Leben zurücksah, war es ganz wundervoll! Ja, meine Eltern hatten mich ausgesetzt, aber sonst war bisher alles perfekt gewesen. Wieso hatte ich das nicht zu schätzen gewusst? Naja, man wusste erst, was einem etwas bedeutet, wenn es plötzlich nicht mehr da war. Aber jetzt durfte ich nicht Trübsal blasen!
Katie war ein wundervoller Mensch gewesen und mit ihr hatte ich die schönsten Momente in meinem Leben erlebt. In meinem Herzen würde sie immer weiterleben. Und sie würde nicht wollen, dass ich nun so traurig war. Sie würde mir sagen, dass ich die Vergangenheit hinter mir lassen sollte und weiter nach vorne sehen! Und genau das würde ich jetzt auch tun! Aber zuerst musste ich noch etwas anderes erledigen.
Unerlaubterweise stieg ich nun aus dem Bett und ging zu dem Schrank. Ich musste herausfinden, ob der Korb darin war. Zögernd öffnete ich die Tür. Der Korb lag tatsächlich darin. Ich nahm ihn an mich und ging dann zum Fenster. Wenn ich die Vergangenheit ein für alle Mal hinter mir lassen wollte, musste ich ihn loswerden!

Nun öffnete ich das Fenster. Ein kühler Wind wehte mir entgegen und ließ mich frösteln. Eine Weile betrachtete ich still den Korb und zögerte, ihn hinauszuwerfen. Er war das Einzige, das mich an meine Eltern erinnerte. Aber meine Eltern hatten mich nicht gewollt! Wieso sollte ich den Korb behalten? Vielleicht gab es ja noch andere Gründe dafür, dass sie mich weggeben mussten? Aber hätten sie nicht auch eine andere Lösung finden können? Es gab immer eine andere Lösung! Außerdem wären wir dann zumindest eine Familie gewesen. Nur warum hatte ich ihn aus den Flammen gerettet, wenn ich ihn nun doch nicht wollte? Nein, ich konnte ihn nicht behalten! Nicht, wenn ich endlich neu anfangen wollte! Ich hielt den Korb nach draußen und zählte langsam bis drei, dann bis fünf, bis zehn und bis hundert. Doch meine Finger wollten sich nicht von dem Korb lösen. Ich konnte es nicht! Schließlich zog ich ihn doch wieder ins Zimmer und setzte mich auf mein Bett.
Ich konnte den Korb nicht vernichten. Er war ein Teil von mir; irgendwie. Zum ersten Mal in meinem Leben betrachtete ich den Korb genauer. Bisher war er nie wirklich wichtig für mich gewesen. Er war eben einfach da. Außerdem hatte Katie immer aufgepasst, dass ich nie zu sehr in der Vergangenheit hing. Wenn sie da war, hatte ich keine Zeit gehabt mich mit dem Korb zu beschäftigen. Und Katie war immer da gewesen. Nur jetzt nicht mehr.
Geistesabwesend spielte ich an einem Stück Weide, das sich am Griff des Korbes gelöst hatte. Warum hatte nur irgendjemand dieses Feuer legen müssen? Wie konnte nur jemand so grausam sein? Ich wünschte mir, das wäre alles niemals passiert. Mein Leben war gut, so wie es war, auch wenn ich das damals nicht so gesehen hatte. Verdammt! Warum hatte ich mir je gewünscht, es würde sich etwas ändern? Warum war ich nie zufrieden gewesen? Naja, man sah immer erst das, was man hatte, wenn man es dann plötzlich nicht mehr hatte.
Tränen sammelten sich in meinen Augen und flossen mir ungehindert übers Gesicht und meine Sicht verschwamm. Eilig wischte ich sie weg. Ich wollte doch nicht mehr weinen! Traurig schluchzte ich auf, als mir etwas auffiel: Es befand sich etwas weißes unter der Weidenschicht.
Vorsichtig wickelte ich sie ab, bis darunter ein weißer Zettel zum Vorschein kam. Mein Herz schlug plötzlich doppelt so schnell. Hatten mir meine Eltern doch einen Hinweis hinterlassen? Als ich den Zettel an mich nahm, hielt ich den Atem an. Tatsächlich stand darauf etwas geschrieben. Meine Hände zitterten und ich musste mich dazu zwingen, langsam ein- und auszuatmen. Dann begann ich zu lesen:

„Mein liebes Kind,

iich hoffe, dass Du diesem brief niemals liest. Falls dorch, kumme bitte nicht auf dem Gedamken, mich zu suchn. Doch Du sollst wisse, dass ich dich nicht aus freiem Willen weggegebn habe. Es ist zu Deiner eigenen sicherheit! Deshalp bitte ich Dich wirklich inständig, mich niemals – unter keinen Umständen – zu suchen. Wenn Du das tust, werden dir schreckliche Dinge pssieren und Du wirst nie das Leben führen können, das ich mir für Dich wünsche – ein Glückliches.
Ich muss mich dafüa bei Dir entschuldigen. Die... Dinke, die passirt sind, hätte ich verhindern müsen, doch als ich es bemerkte, war es schon zu spät. ich hoffe, dass Du nir das eines Tages verseihen kannst. Durch meine Dummheit – meine Naivytät – musste ich meinem Kind seine Eltern nehmen. Das wede ich mir niemals verzeihen können und es wird kein Tag vergehen, n dem ich nicht an Dich denken werde.
Du bist das Licht in meinem Leben, das mich am Leben erhält. Der Gedance, dass es Dir gut geht, richtet mich Tag für Tag wieder auf und lässt mich drchhalten. So behalte in Gedanken, dass ich Dich immer geliebt habe und Dich immer lieben werde. Vergis das nie! Und vielleicht, vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.

In Libe,
Deine Mutter"

Ohne dass ich es verhindern konnte, fing ich wieder an zu weinen. Doch diesmal ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Meine Mutter liebte mich. Sie hatte sich etwas dabei gedacht, als sie mich weggegeben hatte. Nein, sie wollte mich nicht einmal weggeben! Wer hatte sie nur dazu gezwungen? Welche Umstände mussten so schlimm sein, dass sie eine Mutter – die ihr Kind innig liebte – dazu bringen konnten, ihr Kind wegzugeben?
Doch die Gewissheit, dass meine Mutter mich liebte, fiel wie ein tonnenschweres Gewicht von mir ab und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Zu wissen, dass es nicht daran lag, dass ich nicht gut genug gewesen bin, tat so gut.
Aber was war nur geschehen? Ich wollte sie unbedingt kennenlernen! Ich wollte sie einmal sehen! Warum wollte sie denn nicht, dass ich sie fand? Ich las mir den Brief wieder und wieder durch. Was für Dinge konnten geschehen sein? Plötzlich machte ich mir Sorgen um eine Frau, die ich gar nicht kannte. Wenn sie mich weggegeben hatte, um mich zu schützen, was war dann mit ihr? War sie der Gefahr noch immer ausgesetzt oder hatte auch sie sich versteckt? War sie womöglich gar tot? Diesen Brief hatte sie vor fünfzehn Jahren geschrieben! Die Dinge konnten sich mittlerweile geändert haben. Aber wenn sie sich wirklich geändert hätten, warum hatte sie mich dann nicht geholt? Oder war der Brief eine Lüge gewesen? Doch warum hatte sie ihn geschrieben, wenn die Zeile doch erlogen waren? Nein, der Brief war ehrlich. Das musste er sein! Ich spürte es! Und meine Mutter war in Gefahr!
Momentan wusste ich nicht, was aus meinem Leben werden sollte. Doch mir war klar, dass es so nicht bleiben konnte. Ich wollte wieder glücklich werden! Ich wollte eine richtige Familie haben! In diesem Moment setzte ich mir zum Ziel, meine Mutter zu finden! Egal, wie gefährlich es dort auch sein würde, wir wären zusammen! Vielleicht hatte sie mir ja Hinweise hinterlassen. Die musste ich nur finden! Und Katie würde mir helfen. Auch wenn sie nicht mehr wirklich da war, spürte ich, dass sie mich auf meinem Weg begleiten und beschützen würde. Ich brauchte nur noch etwas Zeit zum Planen. Dann würde ich meine Familie finden!

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt