51. Calina

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Als wir am nächsten Tag zum vereinbarten Treffpunkt kamen, wartete Emily bereits auf uns. Sie grinste und winkte mir fröhlich zu.
„Da bist du ja. Kurz dachte ich, du hättest das gestern gar nicht ernst gemeint."
„Wieso hätte ich dich anlügen sollen?"
Sie zuckte die Schultern.
„Das sind übrigens meine Freunde. Anastasia und Nag."
Bei Calebs Namen grinste Emily, während er nur die Augen verdrehte. „Gut, meinetwegen können wir dann los. Meine Mutter hat Kuchen gebacken."

Keine halbe Stunde später saßen wir bei Emily und ihrer Mutter, Frau Schmidt, in der Küche und aßen. Caleb hatte Emily auf dem Weg hierher noch diverse Fragen zum Schloss gestellt, die sie fast alle beantworten konnte. Damit war er zufrieden und überließ nun mir wieder das Reden. Frau Schnidt reichte mir gerade eine Tasse Kakao, dann setzte sie sich zu uns.
„Emily hat mir erzählt, dass ihr mich sprechen wollt. Sie hat mir nur nicht verraten, wieso, also verzeiht mir, wenn ich nun etwas neugierig bin."
Kurz sah ich zu Anna und Caleb, die mich abwartend ansahen, dann wandte ich mich an Frau Schmidt. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll." Da ich auch nach einigen Sekunden nicht die richtigen Worte fand und alle Augen auf mich gerichtet waren, ließ ich die Bombe einfach platzen. „Wir sind aus UEC."
Sofort wurde Frau Schmidts Gesichtsausdruck ernst. „Darum geht es also. Ich spreche ehrlich gesagt nicht gerne darüber."
Ich nickte verständnisvoll. „Es tut mir leid, dass wir nur deshalb herkommen. Könnten Sie für uns vielleicht eine Ausnahme machen?"
„Ich sehe keinen Grund, wieso ich das tun sollte. Wieso seid ihr überhaupt hier? Haltet ihr es für eine gute Idee, sich mit Cameron anzulegen? Ist das eine Mutprobe oder so etwas?"
Wie konnte ich es ihr nur erklären, ohne zu viel zu sagen? Jeder, der etwas wusste, war ein zusätzliches Risiko.
„Frau Schmidt", warf Caleb nun ein. „Vielleicht sollte Mary Ihnen das unter vier Augen erklären. Ich bin sicher, dann werden Sie unser Anliegen besser verstehen."
Sie seufzte, dann lenkte sie jedoch ein. „Emily, geh mit den beiden doch kurz in dein Zimmer."
Emily nickte und sie verließ mit Anna und Caleb die Küche. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Caleb hatte es mir indirekt gesagt. Er wollte, dass ich Frau Schmidt die Wahrheit sagte.

„Jetzt bin ich auf deine Erklärung gespannt. Mit Cameron ist nicht zu spaßen und wenn du nur aus einer dummen Laune heraus..."
„Frau Schmidt, denken Sie, ich weiß nicht, wie gefährlich er ist? Das tue ich."
Sie sah mich ungläubig an. „Wie kann ein Kind..."
Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Ich bin schon lange kein Kind mehr." Nun zog ich die Ärmel meines T-Shirts hoch und offenbarte meine Narben. „Sehen Sie die?"
Frau Schmidts Gesicht sprach Bände. „Woher...? Was...?"
„Das ist Camerons Werk. Also wenn sie denken, ich wüsste nicht, womit ich es aufnehme, dann haben Sie sich getäuscht."
Nun nahm sie mich ernst. „Du bist also aus UEC. Seit wann verfolgt Cameron Leute, die dem Widerstand angehören, noch dazu Kinder? Ich habe noch nie gesehen, dass er jemandem so etwas Schreckliches angetan hat. Ich bin sicher, deine Arme sind nicht das Einzige, was er verunstaltet hat?"
Ich nickte. „Leider nicht. Und ich bin auch nicht hier, weil ich Ihre Hilfe oder irgendwelche geheimen Informationen über das Schloss möchte."
„Sondern?"
Meine Hände begannen zu zittern, weshalb ich die Tasse fester umschloss. „Ich möchte, dass Sie mir etwas über Calina erzählen. Emily meinte, Sie seien so etwas wie ihre Kammerzofe gewesen."
Frau Schmidt sah mich traurig an. „Das stimmt, aber warum möchtest du ausgerechnet etwas über Calina wissen? Sie ist seit Jahren tot."
Ich wich Frau Schmidts Blick aus. „Weil sie meine Mutter war."
Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Darum verfolgt Cameron dich. Aber... du heißt Mary?"
Ich schüttelte den Kopf. „Wir mussten fliehen. Vom Widerstand haben wir neue Identitäten bekommen."
„Dann heißt du eigentlich Malina?"
Ich nickte. „Ich bin den Hinweisen meiner Mutter bis hier gefolgt. Ich will, dass Cameron für ihren Tod bezahlt! Und ich dachte, dass Sie mir etwas über sie erzählen können. Ich durfte sie leider nie kennenlernen."
Frau Schmidt nahm meine Hand in ihre. „Deine Mutter war eine wundervolle Frau! Sie war immer gut gelaunt und hat überall gute Laune verbreitet. Wenn man sie sah, konnte man nicht anders als zu lächeln. Doch letztendlich hat Cameron sie kaputt gemacht. Sie ist an ihm zerbrochen."
„Aber warum hat sie ihn dann geheiratet?!"
„Du musst wissen, Cameron war nicht immer so. Als Calina ihn mir vorgestellt hat, habe ich ihn für einen guten Mann gehalten. Sonst hätte ich die Heirat doch niemals zugelassen! Er hat sich irgendwann verändert. Ich weiß nicht, wieso oder wann, aber es muss ziemlich plötzlich gekommen sein. Calina wollte es zunächst nicht wahrhaben. Sie hat die Augen vor der Wahrheit verschlossen.
Calina hat in jedem Menschen immer nur das Gute gesehen. Aber als sie erfahren hat, dass sie schwanger ist, konnte sie nicht anders. Sie wollte dich beschützen, doch zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät, viel gegen Cameron auszurichten. Er hatte bereits einen großen Teil der Menschen in UEC auf seiner Seite und an Macht gewonnen. Er hätte Calina schon zu dem Zeitpunkt umbringen können.
In dieser Zeit hat Calina viel geweint. Oft war ich da, um sie zu trösten. Und letztendlich sah sie nur einen Ausweg: dich wegzugeben. Sie wollte nicht, dass du zu einem Werkzeug für Cameron wirst. Sie wollte ein gutes Leben für dich. Wurde ihr Wunsch erfüllt?"
Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich nickte. „Ja. Ich bin in einem Kinderheim aufgewachsen. Es war eine schöne Zeit."
„Und warum bist du dann hier?"

Ich fasste die Geschichte kurz zusammen. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis das alles mich eingeholt hatte. Doch ich habe meinen Frieden damit gemacht. Ich bin bereit zu kämpfen."
Frau Schmidt lächelte. „Calina wäre sehr stolz auf dich. Sie hat dich über alles geliebt und ich musste sie noch Wochen nachdem du weg warst trösten. Sie hat versucht, Cameron zu besiegen, um dich irgendwann zurückholen zu können. Und dabei ist sie gescheitert."
„Aber er hat sie wirklich umgebracht?"
Sie nickte. „Ich kann es mir nicht anders erklären. Eben war sie noch gesund und dann ging es ihr immer schlechter und schlechter."
„Und warum hat sie mir all die Hinweise hinterlassen, wenn sie doch nicht wollte, dass ich ihr folge?"
„Ich glaube, sie hat es geahnt. Sie hat geahnt, dass sie dich nicht vor allem verbergen könnte und dass du irgendwann anfangen würdest, Fragen zu stellen und dann wollte sie nicht, dass du denkst, sie hätte dich im Stich gelassen."
„Das glaube ich nicht. Ich verstehe sie. Aber ich muss trotzdem gegen ihren Willen handeln und versuchen, Cameron zu besiegen."
„Das verstehe ich. Und dein Freund hatte tatsächlich recht. Ich will euch jetzt helfen!"

Erst am späten Abend kehrten wir ins Hotel zurück. Die ganze Zeit hatten wir in der Küche unsere Pläne geschmiedet. Emily bekam zwar ein paar Informationen, doch auch ihre Mutter wollte sie nicht unnötig in Gefahr bringen. So war sie nur unser Mittel zum Zweck, um überhaupt ins Schloss zu gelangen. Am nächsten Tag sollte sie uns hineinbringen. Wir erledigten dann den Rest.
Da Frau Schmidt lange im Schloss gearbeitet hatte, kannte sie sich gut aus und nannte uns die Orte, an denen wir am ehesten suchen sollten. Dazu hatte sie uns einen groben Grundriss des Schlosses gezeichnet und die entsprechenden Stellen mit einem roten Kreuz markiert. Zu diesen Räumen zählte das Schlafzimmer meiner Mutter, der Musikraum, in dem sie wohl viel Zeit verbracht hatte, und das Büro.

Pünktlich trafen wir Emily vor dem Eingang an. Doch sie sah weniger glücklich aus.
„Ist alles in Ordnung?", fragte ich sie.
Sie nickte. „Ja, schon. Es gibt nur ein kleines Problem."
„Das da wäre?", fragte Anna und seufzte.
„Ich schaffe es nicht, euch drei unauffällig ins Schloss zu bringen. Es kann nur einer gehen."
„Ich mach das!", meldete Caleb sich zu Wort.
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Ich gehe."
Anna und Caleb warfen sich unschlüssige Blicke zu. „Emily, könnten wir uns kurz besprechen?"
Sie verdrehte die Augen, ließ uns dann aber allein. Bevor Anna oder Caleb etwas sagen konnten, fing ich an zu reden. „Ich werde gehen. Punkt. Aus. Ende. Wenn einer von euch erwischt wird, bringt mein Vater euch sofort um. Mich wird er auf keinen Fall töten."
Caleb stampfte mit dem Fuß auf den Boden und trat einen Stein weg. „Wie ich es hasse, dass du recht hast. Aber du bist dir im Klaren darüber, was er stattdessen mit dir macht?"
Ich musste schlucken, nickte aber. „So weit wird es nicht kommen. Lasst uns sagen, ich bin um spätestens sechs Uhr heute Abend wieder hier. Wenn nicht, dann ist etwas schiefgegangen und dann holt ihr mich so schnell, aber so sicher wie möglich da raus."
Anna nickte. „Du kannst dich auf uns verlassen. Aber bitte pass auf, dass nichts schiefgeht."
„Ich passe auf mich auf. Vielleicht ist es am besten, wenn ich euch mein Medaillon gebe. Dann erkennt man mich nicht gleich."
Caleb kratzte sich am Kopf. „Deine Mutter hat es verzaubert. Vielleicht könnte es dir im Schloss nützlich sein."
„Wenn ich zaubere und es anfängt zu leuchten, falle ich nur auf. Und ich weiß noch nicht wirklich, wie man mit Magie umgeht." Mit den Händen ertastete ich das Schloss und öffnete das Medaillon. Dann reichte ich es Caleb. „Pass gut darauf auf."
Er lächelte. „Du bekommst es wieder, sobald du wieder heil und gesund bei uns ankommst."
Ich musste grinsen. „Wenn das nicht eine gute Motivation ist."
Plötzlich begann Anna zu kichern.
„Was ist das so witzig?", fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.
Sie schüttelte den Kopf. „Ach, nichts, nichts."
„Gut, dann sehen wir uns nachher wieder hier. Wenn ich früher wieder da bin, komme ich zum Hotel."
„Eins noch, Malina."
Fragend sah ich Caleb an. „Was ist?"
Plötzlich bückte er sich und zog seinen Schuh aus. Verwundert sah ich ihm dabei zu. „Was wird das, wenn es fertig ist?"
Caleb richtete sich wieder auf und hielt seinen Schuh in der Hand. „Ich will dich nicht ganz wehrlos ins Schloss gehen lassen."
„Und ich soll die Wachen mit deinem Schuh erschlagen?"
Caleb lachte und schüttelte den Kopf. „Nein. Nach unserer Gefangenschaft musste ich mir eine Waffe zulegen, die nicht auffiel, sodass sie mir bei Gefangenschaften nicht abgenommen werden kann ich etwas für den Notfall habe."
„Und das ist dein Schuh?"
„Nicht ganz." Er hielt den Schuh so, dass die Hacke nach oben zeigte. Dann zog er ein kleines Messer heraus, das er kurz über der Sohle in den Schuh gesteckt hatte. „Das sollst du in deinen Schuh stecken. Ich hoffe zwar nicht, dass du es brauchst, aber im Notfall kannst du dich zumindest wehren."
Ich lächelte und nahm das Messer. „Danke, abermir wird nichts passieren."

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt