1. Das Treffen

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Die Kälte umhüllte mich wie eine Decke und ließ mich unkontrolliert zittern. Ich saß auf der Parkbank und hatte meine Arme um meine Beine geschlungen, um mich ein wenig zu wärmen, während der Regen mich unerbittlich durchnässte. Wahrscheinlich würde ich mich erkälten, aber das war mir egal. Ich wollte jetzt hier sein. Hier, auf der Bank, auf der Katie und ich immer gesessen hatten.
Schnell wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Ich sollte nicht weinen - nicht heute, nicht an meinem Geburtstag. Doch war es der erste Geburtstag seit ich denken konnte, an dem Katie nicht dabei war. Dabei hatte sie versprochen heute zu kommen. Vor nicht ganz einem Monat war sie nämlich adoptiert worden und hatte mich hier alleine zurückgelassen. Hier, in diesem Kinderheim in Syracuse!
Wir waren schon seit wir denken konnten in diesem Kinderheim hier. Viele Leute um uns herum sind gekommen und gegangen. Ich hatte mich daran gewöhnt, mein Herz nicht zu sehr an andere Leute zu hängen. Katie war da eine Ausnahme. Bisher wäre ich in meinem Leben alleine gewesen, wenn sie nicht gewesen wäre. Schon als wir ganz klein waren, sind wir beste Freundinnen geworden und haben uns geschworen, dass wir immer zusammen bleiben würden. Und bisher hatte das auch geklappt! Keine von uns war adoptiert worden und jetzt, mit 15 Jahren, waren wir eigentlich schon zu alt. Die meisten Leute, die ein Kind aufnahmen, wollten am liebsten ein Baby und so grenzte es schon an ein Wunder, dass Katie überhaupt eine Familie gefunden hatte.
Obwohl es mich eigentlich nicht wundern sollte. Im Gegensatz zu mir hatte Katie immer schon viel Glück gehabt. Als sie geboren wurde, hatte sie noch eine Mutter gehabt. Ihr Vater war vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Mutter jedoch zog sie liebevoll auf, jedenfalls bis sie schwer erkrankte und letztendlich starb. Katie war noch zu klein gewesen, um das zu verstehen. Doch ihre Mutter hatte ihr alles vererbt, was sie besaß und sobald Katie volljährig war, würde sie dieses Erbe ausgezahlt bekommen.
Ich war in einem kleinen Korb auf der Schwelle des Kinderheims ausgesetzt worden. Aber am schlimmsten war die Ungewissheit. Ich wusste weder, wer meine Eltern waren, noch warum sie mich ausgesetzt hatten oder wo sie sich heute befanden. Das waren alles Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen würde, die ich durch Katie aber vergessen hatte. Solange ich sie hatte, musste ich mich nicht mit meiner Vergangenheit beschäftigen, sie war meine Familie gewesen, meine Schwester, mein Fels in der Brandung. Und nun hatte sie mich zurückgelassen, wie meine Familie vor ihr und ich war allein.
Bisher hatte sie sich jedes Mal zu meinem Geburtstag etwas ausgedacht, um mich zu überraschen und vergessen zu lassen, dass ich nur eine Waise war. Wie sehr ich sie doch vermisste! Ich schluchzte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Dabei wäre es viel gerechtfertigter gewesen, wenn ich wütend gewesen wäre. Schließlich war es Katie, die nicht gekommen war.
Doch sosehr ich es auch versuchte, die Enttäuschung war größer und verdrängte die Wut. Deprimiert zog ich den Kopf ein, bettete ihn dann auf meinen Knien und beobachtete, wie der Regen auf den Weg des Stadtparkes herabregnete, als ich etwas Glänzendes sah. Neugierig stand ich von der Bank auf und hob eine kleine Münze auf.
Ich erinnerte mich daran, dass Katie und ich hier öfter Münzen gefunden hatten. Diese hatten wir dann in den Brunnen geworfen und uns etwas gewünscht. Als ich daran dachte, musste ich lächeln, gleichzeitig kamen mir wieder die Tränen. Doch ich wollte mir auch jetzt etwas wünschen. Nur was? Am meisten wünschte ich mir doch, dass Katie zurückkommen würde, oder? Nein, sie würde nicht zurückkommen. Außerdem war sie jetzt wahrscheinlich glücklich - schließlich hatte sie eine Familie gefunden. Und ich? Ich wollte nicht länger alleine sein.
Ich ging zu dem Brunnen, der sich in der Mitte des Stadtparkes befand. Dort schloss ich die Augen und wünschte mir, dass ich nicht mehr alleine sein musste. Egal, wie dieser Wunsch sich auch erfüllen sollte, ich wollte einfach wieder jemanden haben, der für mich da sein würde wie ich für ihn. Ob es Katie war oder jemand anderes, das sollte das Schicksal für mich entscheiden. Dann warf ich die Münze ins Wasser.
Ich setzte mich auf den Beckenrand und beobachtete die Münze, wie sie langsam im Brunnen versank. Als ich meinen Blick wieder auf den Weg richtete, fiel mir noch etwas ins Auge. War es noch eine Münze? Nein, so viel Glück konnte ich doch nicht haben! Ich barg auch diesen Gegenstand aus dem Dreck. Es war eine zarte goldene Kette, die mit einer Gravur versehen war: Anna.
Ich sah mich um, doch hier war niemand mehr. Ob Anna die Kette hatte loswerden wollen oder hatte sie sie nur versehentlich verloren? Vielleicht wollte sie die Kette ja wiederhaben. Ich steckte sie ein. Es war zwar unwahrscheinlich, aber eventuell könnte ich sie ihr ja irgendwann wiedergeben.
„Malina?", rief jemand. „Malina, wo bist du?"
Inzwischen war der Regen so stark geworden, dass man nicht mehr sehr weit sehen konnte.
„Ich bin hier", antwortete ich nüchtern.
Eine Person mit einem Regenschirm kam auf mich zu.
„Da bist du ja. Wir haben dich schon gesucht. Ich rufe jetzt Katharina an und sage ihr, dass ich dich gefunden habe und dann gehen wir zurück, ja?", erklärte Timmy mir. Er und Katharina arbeiteten im Kinderheim. Zwar versuchten sie oft mit mir ins Gespräch zu kommen und mich aufzuheitern, aber bisher hatte ich öfters allein sein wollen. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass Katie zurückkommen würde. Aber das tat sie nicht, ich musste endlich aufwachen!

Die Stimmung im Kinderheim war noch immer super und ich glaubte, das fröhliche Lachen der anderen Kinder nicht mehr auszuhalten! Ich wollte alleine sein!
„Malina, wo warst du denn?", fragte Katharina, als sie aus einem Zimmer auf mich zu kam.
Timmy antwortete statt meiner: „Sie war im Park."
„Aber es regnet doch in Strömen!" Katharina warf einen Blick auf mich und ihr schien erst jetzt aufzufallen, dass ich bis auf die Knochen durchnässt war. „Oh, Timmy, holst du bitte ein Handtuch?"
Er seufzte. „Ja, mache ich."
„Danke. Jetzt zu dir." Sie wandte sich mir zu. „Was zum Teufel hat dich auf die Idee gebracht, nicht zurückzukehren, als es angefangen hat zu regnen?"
„Es war nicht so kalt", antwortete ich, doch meine Ausrede klang unglaubwürdig, denn ich zitterte am ganzen Körper.
Katharina sah mich streng an. „Wenn das noch einmal passiert, dann werden wir dich demnächst nicht mehr so einfach weggehen lassen können."
„Ihr könnt mich hier nicht einsperren!"
„Niemand hat etwas davon gesagt, dass wir dich hier einsperren wollen! Aber du musst verstehen, dass wir für dich verantwortlich sind. Wir machen uns Sorgen um dich."
„Niemand sorgt sich um mich!", schrie ich. Bisher hatte es niemanden interessiert, was ich so gemacht hatte, es würde auch jetzt niemanden interessieren!
„Natürlich sorgen wir uns um dich." Auf einmal wurde Katharinas Miene weich. „Malina, ich weiß, dass es momentan nicht leicht für dich ist, aber wenn du nicht mit uns redest und dich von allem abschottest, können wir dir auch nicht helfen."
„Ich...", begann ich gerade meine Antwort, als Timmy mit dem Handtuch zurückkam.
„Okay, trockne dich erst einmal ab und zieh dir etwas Trockenes an, ja?"
Ich nickte.
„Ich komme später noch einmal zu dir."
Darauf gab ich keine Antwort mehr, sondern verschwand einfach. Ich wollte nicht reden. Die sollten mich doch einfach alle in Ruhe lassen!

Am nächsten Tag wollte ich wieder in den Park. Vorher wollte Katharina jedoch noch mit mir reden. Ich war am Tag zuvor eingeschlafen, ehe sie dazu kam. Bevor ich also hinaus durfte, musste ich das Gespräch über mich ergehen lassen.
„Also, was wolltest du?", fragte ich Katharina kühl.
„Ja, ich wollte mit dir darüber reden, was du jetzt tun willst?"
„Wie meinst du das?"
„Ich meine, du kannst nicht den ganzen Tag auf deinem Zimmer hocken und nichts tun. Vor allem verbreitest du überall schlechte Laune."
„Ja, dann lasst mich doch einfach in Ruhe!"
„Malina, das können wir nicht. Versteh doch, dass wir uns Sorgen machen und dich nicht einfach dahinvegetieren lassen!"
„Aber..."
„Nein, kein aber! Versuch doch zumindest ein bisschen, dich auf die anderen einzulassen. Von deiner schlechten Laune kommt Katie auch nicht zurück. Du musst nach vorne sehen!"
Ich schwieg und sah zu Boden.
„Katie würde nicht wollen, dass du den ganzen Tag traurig bist. Sie würde sich bestimmt freuen, wenn sie hören würde, dass es dir gut geht."
„Aber das tut es nicht!"
„Das kann es. Du musst dir nur einen Ruck geben. Natürlich wirst du sie noch eine Weile vermissen, aber gib den anderen eine Chance. Gib dir eine Chance."
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. „War das alles?"
Katharina seufzte. „Ja, mach, was auch immer du vorhattest."
Schnell verschwand ich. Noch so eine Rede konnte ich nicht gebrauchen. Warum sollte ich mich um Menschen bemühen, die mich doch irgendwann verlassen würden?
Ich war hier in einem Kinderheim. Alle, die hier waren, warteten nur auf eine Familie und wenn sie eine finden würden, würden sie nicht zögern mitzugehen. Ich hatte in meinem Leben schon viele Leute kommen und gehen sehen, doch nie war ein Verlust so schwer wie der von Katie. Noch eine solche Enttäuschung konnte ich nicht gebrauchen. Es gab schon mehr als genug Verluste in meinem Leben!

Nur wenig später kam ich im Park an. Ich war noch immer schlecht gelaunt. Das Zwitschern der Vögel und das gute Wetter konnten mich jedoch ein bisschen aufheitern. Ich liebte diesen Park. Genauso sehr, wie Katie ihn geliebt hatte.
Ich verfluchte mich selbst für diesen Gedanken und steckte meine Hände in die Hosentaschen. Dabei umschlossen meine Finger die Kette, die ich am vorherigen Tag gefunden hatte. Gleichzeitig bemerkte ich ein Mädchen, das um den Brunnen schlich und den Boden nach etwa abzusuchen schien. Das Schicksal hatte wohl andere Pläne mit mir als Trübsal zu blasen. Ich wollte mich schon fragen, ob das eine gute Idee sei, da gab ich mir einen Ruck und ging auf das Mädchen zu, das ja eventuell den Namen Anna trug.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt