48. Zeit

9 2 0
                                    

In der Nacht vor unserer Ankunft im Hamburger Hafen stahl ich mich aus unserer Koje und ging an Deck. Die Sterne leuchteten über mir und ich konnte sogar den großen Wagen ausfindig machen. Es war das einzige Sternbild, das ich erkennen konnte. So stand ich eine Weile auf dem Schiff, spürte den Wind in meinen Haaren und wartete.
„Ich hoffe, du hast dich warm genug angezogen", hörte ich Calebs sanfte Stimme hinter mir und musste lächeln.
„Sicher doch. Man lernt schließlich aus seinen Fehlern."
Er stützte sich neben mich auf das Geländer. „Hast du eine Entscheidung getroffen?"
Ich atmete tief durch. „Ja, das habe ich. Und ich werde mir die Zeit nehmen. Aber dann will ich unsere Reise fortsetzen. Doch du hast recht, in meinem jetzigen Zustand nütze ich niemandem etwas."
Caleb lächelte. „Ich bin froh, dass du dich so entschieden hast. Und ich weiß, dass du das schaffen kannst. Du bist eine der stärksten Personen, die ich je getroffen habe."
Verlegen wandte ich den Blick ab. „Aber eins noch, hast du mein Medaillon gesehen?"

Caleb hatte es nicht gefunden. Anna auch nicht. Trotzdem wollte ich meinen Plan weiterhin verfolgen. Nachdem wir in Hamburg angekommen waren, fuhren wir nach Flensburg, eine Stadt in der Nähe unseres eigentlichen Ziels. Wie Caleb es angekündigt hatte, mieteten wir eine kleine Wohnung. Mit dem Geld aus UEC und dem von meiner Mutter würden wir sie eine Weile behalten können.
Trotzdem suchten Anna und Caleb sich Teilzeitjobs. Laut ihrer neuen Ausweise waren sie beide schon volljährig und bekamen einen guten Lohn, den sie auf ein Konto überwiesen bekamen, das Caleb extra zu diesem Zweck anlegte. Ich blieb anfangs nur in der Wohnung. In jedem Fremden sah ich eine Bedrohung und wollte generell so wenig wie möglich mit anderen Menschen zu tun haben.

Während Anna arbeitete, begann ich, mit Caleb meine Erlebnisse durchzusprechen. Ich weinte viel. Besonders als ich meinen Körper zum ersten Mal im Spiegel betrachtete. Doch sowohl Caleb, als auch Anna standen mir bei. Und tatsächlich wurde es besser. Je öfter ich darüber sprach, desto leichter wurde es.
Ich dachte viel nach. Nicht nur über das, was mir passiert war, auch über meine Zukunft. Während meiner Gefangenschaft hatte ich aufgegeben, doch mein Lebenswille war zurückgekehrt. Ich fühlte mich stärker denn je und all die Angst, die ich verspürt hatte, wurde zu Wut. Wut auf Cameron.
Je mehr ich darüber nachdachte, was er mir angetan hatte, desto sehnlicher wünschte ich mir, ihn genauso leiden zu lassen. Ich wollte, dass er die gleiche Angst, den gleichen Schmerz spürte wie ich. Ich hatte versucht, mich damit rauszureden, dass ich mit meiner Vergangenheit eigentlich gar nichts zu tun hatte und meine Zukunft nicht dadurch bestimmt sein sollte. Doch das war sie schon längst. Durch Camerons Tat war dies etwas Persönliches geworden.

Und ich hatte mich für meine Familie und die Gefahr, die sie mit sich brachte, entschieden. Nicht Cameron, nicht meine Mutter, nicht Anna. Allein ich war es, die sich für das Risiko entschieden hatte.
Ich hatte mich so entschieden, als ich beschlossen hatte, den Hinweisen meiner Mutter zu folgen.
Ich hatte mich so entschieden, als ich längst in alles verwickelt war und am Grab meiner Mutter die Chance bekam, ein neues Leben anzufangen.
Ich hatte mich so entschieden, als ich Caleb befreien wollte.
Und ich entschied mich jetzt so.

Nach allem, was ich erlebt hatte, war ich bereit weiterzukämpfen. Ich hatte gedacht, ich könnte nicht mehr und ich sei schwach, doch ich hatte mich getäuscht. Caleb hatte recht behalten. Meine Vergangenheit machte mich stark. Und jetzt hatte ich ein klares Ziel vor Augen.
Ich wollte Cameron besiegen und die Überraschung in seinen Augen sehen, wenn er bemerkte, dass er verloren hatte. Meine Ziele waren vielleicht genauso gering gesteckt wie die meines Vaters; er wollte die Weltherrschaft und ich wollte einen Weltkrieg verhindern. Dazu musste ich ein ganzes Volk von den schlechten Absichten meines Vaters überzeugen. Und das würde ich. Ich wusste zwar noch nicht wie, aber mir würde schon etwas einfallen. Schließlich war ich nicht allein.

„Bist du bereit?", fragte Caleb mich und ich nickte. Dann zog er das Handtuch weg, das den Spiegel bedeckte.
Es war das erste Mal, dass ich mich so genau im Spiegel betrachtete. Immer hatte ich den Anblick gescheut. Zum ersten Mal war ich sogar stolz auf meine Narben. Es waren tatsächlich nicht so viele übrig geblieben, wie ich befürchtet hatte. Doch sie zeigten, was ich geschafft hatte. Sie zeigten meine Vergangenheit und diese machte mich stark. Ich hatte die Folter meines Vaters überstanden und plötzlich erschienen mir Probleme, die vorher riesig und unlösbar vor mir aufragten, nichtig und klein.
Vorsichtig fuhr ich über einige der Narben. Ein Teil meiner Wunden waren noch dabei zu verheilen, doch in wenigen Wochen würde man nichts mehr davon sehen. Ein anderer Teil der Narben würde nie verblassen. Doch das störte mich nicht mehr. Es erinnerte mich nur daran, wie stark ich war.
Denn das war ich und das hatte ich eingesehen. So schnell würde mich nichts mehr aus der Bahn bringen können und ich wusste, dass ich viel ertragen konnte. Vielleicht waren die Narben genau das, was ich brauchte, um den Leuten zu zeigen, dass ich stark genug war, sie zu führen. Vielleicht halfen sie, die Lügen meines Vaters aufzudecken und endlich Gerechtigkeit zu schaffen. Er würde büßen für das, was er getan hatte.
„Was denkst du?", fragte Caleb.
Ich grinste. „Ich stelle mir vor, wie ich Cameron eine reinhaue, wenn ich ihm das nächste Mal begegne!"
Caleb grinste ebenfalls. „Das ist die Malina, die ich kenne! Hast du schon eine konkrete Vorstellung, wie das aussehen soll?"
Ich schüttelte den Kopf. „Aber wir haben jetzt genug Zeit hier verbracht. Es wird Zeit, den Hinweisen weiter zu folgen."
„Also geht es nach Glücksburg?"
Ich nickte. „Du kannst unsere Wohnung kündigen. Ich bin bereit!"

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt