33. Strafe muss sein

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Als die Diskussion anfing, war ich unglaublich nervös und ich hoffte, dass meine Beine nicht zitterten, doch diese Nervosität war irgendwann einer seltsamen Ruhe gewichen. Es kam mir so vor, als sei ich so gefasst wie nie. Meine Gedanken waren glasklar und obwohl ich Angst haben müsste, war ich einerseits neugierig, was geschehen würde und andererseits auf eine sonderbare Weise fasziniert.
Mein Vater hatte es einfach so geschafft, ein ganzes Volk auf seine Seite zu bringen. Er hatte es geschafft, sie an seine Ziele glauben zu lassen und an seiner Seite zu kämpfen. Ich hätte diesbezüglich niemals etwas gegen ihn ausrichten können, also war es gut gewesen, dass ich geschwiegen hatte.
Cameron hatte aber auch viel mehr Übung als ich. Er musste schon oft Reden geschwungen haben. Seine Überzeugungskraft war unglaublich. Würde ich die Wahrheit nicht kennen, wäre wahrscheinlich auch ich seiner Manipulation zum Opfer gefallen. Falls ich je in einer Rede gegen ihn antreten musste, brauchte ich definitiv einen Plan. Allein meine Überzeugungskraft würde nicht reichen.
Wenn ich ihn je besiegen und das Volk auf meine Seite bringen wollte, brauchte ich mehr; dann brauchte ich Beweise. Nicht nur das, ich brauchte stichhaltige Argumente und etwas Manipulation würde auch mir nicht schaden. Ich musste jeden Vorteil nutzen, den ich hatte. Dazu konnte ich einerseits versuchen, Mitleid zu erheischen. Wenn ich meine Geschichte erzählte und mich dabei etwas anstrengte, konnte ich vielleicht den ein oder anderen auf meine Seite bekommen. Gleichzeitig musste ich diese Dramatik aber geschickt genug einsetzen, so dass ich nicht schwach wirkte, sondern man mich immer noch als gute – und vor allem fähige – Anführerin sah. Denn genau das wollte ich sein.
Ja, ich wollte meinen Vater stürzen und ich wollte das Volk leiten. Ich wollte meinen Platz als Herrscherin einnehmen, der mir von Geburt an zustand. Ich wollte das Erbe meiner Mutter – mein Erbe – endlich bekommen. Und damit hatte auch mein Leben endlich ein Ziel. Ich wusste jetzt, worauf ich hinarbeiten wollte.
Zwar hatte mein Abenteuer nicht ganz freiwillig begonnen, doch nun war ich bereit. Während ich anfangs noch distanziert UEC und meiner Familiengeschichte gegenübergestanden hatte, war ich endlich bereit, mich darauf einzulassen. Ja, ich wollte es sogar! Ich hatte es akzeptiert. Und dafür würde ich auch kämpfen.

Während die Diskussion noch lief, schweiften meine Gedanken immer wieder darum und plötzlich überkam mich ein unglaublicher Tatendrang. Dabei wusste ich nicht einmal, wieso und woher dieser Wille plötzlich kam. Aber ich wollte jetzt etwas tun. Ich hatte wirklich Lust dazu, etwas zu tun! Nur momentan konnte ich nicht viel ausrichten.
Ich brauchte dringend einen Plan. Gerade würde es nichts bringen, wenn ich zu dem Volk sprach, das hieß, dass ich jetzt nur stark sein konnte. Oder zumindest so aussehen. Und danach musste ich fort von hier. Ich musste den Ort finden, den meine Mutter mir gegeben hatte und dann musste ich Beweise finden. So konnte ich ihn stürzen. Ich musste beweisen, dass Cameron meine Mutter ermordet hatte. Dann mussten mir die Leute doch glauben!

„Damit steht die Strafe fest!" Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken und ich starrte Cameron an.
Dieser drückte auf einen Knopf an seinem Headset und kam auf mich zu. „Du kannst dich glücklich schätzen, dass das Volk Mitleid mit deiner hässlichen Visage hatte. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre die Strafe härter ausgefallen. Aber dafür haben wir ja später noch genug Zeit." Er grinste böse und ich musste mir Mühe geben, das Zittern in meinen Beinen zu unterdrücken. Ich streckte sie so fest es ging durch, verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Augenbrauen hoch. Dabei versuchte ich, möglichst spöttisch zu gucken. Keinesfalls sollte man mir die Angst ansehen!
Cameron verdrehte genervt die Augen. „Nun, küsse mir die Füße und entschuldige dich bei allen für deine Missetaten."
Etwas ungläubig sah ich ihn an. Das sollte meine Strafe sein? Sie war tatsächlich nicht hart, dafür unglaublich demütigend. Ich würde nicht die Füße meines Vaters küssen und ich würde mich auch nicht für etwas entschuldigen, das ich nicht getan hatte! Zudem würde das alles meine Autorität untergraben. Wenn ich es denn geschafft hatte, zumindest ein bisschen stark und unbesiegbar auszusehen.
„Nein", entgegnete ich.
Cameron warf mir böse Blicke zu. „Du tust jetzt sofort, was dir gesagt wurde." Er gab ein Handzeichen und die Wachen hinter mir traten mir in die Kniekehlen, sodass ich nach vorne stolperte und auf die Knie fiel.
„Vergiss es! Niemals!", rief ich.
Plötzlich beugte Cameron sich zu mir herunter. Der Geruch nach Rauch hüllte mich ein und seine raue Stimme jagte mir kalte Schauer über den Rücken. „Wenn du jetzt nicht sofort deine Strafe annimmst, dann werden wir mal sehen, wie lange deine beiden Freunde die Luft anhalten können."
Ich erstarrte, während Cameron sich wieder zu voller Größe aufrichtete und triumphierend lächelte. Er wusste, dass er mich in der Hand hatte. „Das würdest du nicht tun!"
Sein Lachen war Antwort genug. Er war so kalt. Er kannte keine Gnade. Wenn er wollte, würde er sie ohne zu zögern selbst umbringen. Plötzlich hatte ich eine Idee. „Wenn du sie umbringst, werde ich nie mit dir zusammenarbeiten."
Cameron starrte mich einen Moment finster an, dann fing er sich wieder. Dabei waren seine Augen so kalt, dass ich eine Gänsehaut bekam. „Langsam verliere ich die Geduld! Ich kann deiner kleinen Freundin auch ein Ohr abschneiden und es ihren Eltern schicken. Oder ich nehme ihr gleich die ganze Hand. Ohne Betäubung. Ich habe viele Varianten, das zu erreichen, was ich will. Und wenn du jetzt nicht sofort deine Strafe einhältst, wird es böse für deine Freunde enden, das verspreche ich."
Wut stieg in mir auf, doch ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb. Ich würde Anna und Caleb nicht meines Stolzes wegen in Gefahr bringen.
„Küss. Meine. Füße!"
Wütend warf ich Cameron einen Blick zu, dann beugte ich mich langsam hinunter. Hitze stieg mir ins Gesicht und meine Wangen brannten. Ich wollte Camerons überhebliche Miene gar nicht sehen – und auch niemanden sonst. Meine Augen brannten und ich musste heftig blinzeln, um nicht zu weinen. Dann richtete ich mich wieder auf.
Cameron grinste. „Geht doch. Und jetzt entschuldige dich."
„Es tut mir leid." Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Lauter! Die Leute in der hintersten Reihe sollen dich noch hören!"
„Es tut mir leid", sagte ich nun etwas lauter.
„Noch lauter! Oder wir sehen, wie deine Freunde schreien können."
Wieder stieg Wut in mir auf. Ich ballte die Hände zu Fäusten und sah Cameron in die Augen. Dann schrie ich. „Es tut mir leid!" Ich trat einen Schritt vor und musste mich zurückhalten, ihn nicht anzufallen, als er grinste. Die Wachen hielten mich an den Schultern fest.
Cameron kam auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen. „Geht doch, Süße." Er machte Anstalten, mich zu berühren. Ich konnte nicht zurückweichen, also tat ich das Einzige, was ich konnte. Ich spuckte ihm ins Gesicht. Cameron trat zurück, dann landete auch schon seine Hand in meinem Gesicht und ließ mich taumeln. Meine Wange brannte und ich schmeckte Blut.
Dann landete eine Faust in meinem Bauch. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, klappte ich zusammen und landete auf dem Boden. Ich rang nach Luft, doch mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Nach ewig langen Sekunden gelang es mir endlich, frische Luft einzuatmen. Doch erholen konnte ich mich nicht, ich wurde an den Haaren gepackt und hochgerissen. Ich blickte in Camerons Augen. Sein Gesicht triefte vor Hass, den er mir entgegenschleuderte.
„Du kleines Miststück. Alles an dir ist falsch. Bei deiner Augenfarbe angefangen." Er schüttelte den Kopf und warf mich zurück. Meine Beine trugen mein Gewicht nicht mehr und so fiel ich auf den Boden.
Mein Kopf brummte. Steh auf! Schrie eine leise Stimme, doch ich konnte nicht. Doch, ich musste aufstehen! Ich musste meinem Vater zeigen, dass er mich nicht so schnell klein kriegen konnte. Das war es doch, was ich wollte.
Ich wollte stark sein.
Ich wollte dem Volk zeigen, dass ich eine Anführerin sein konnte.
Ich wollte den Widerständlern Hoffnung geben.
Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich stark sein konnte.
Und zu meiner Überraschung war ich stark. Ich stand auf, ohne das meine Beine zitterten. Stumme Tränen liefen mir über die Wangen, doch das war mir egal. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und stellte mich aufrecht hin.
Mein Vater hatte sich wieder dem Volk zugewandt und fuhr seine Rede fort. Erst, als sich die Blicke der Leute auf mich richteten, sah auch mein Vater sich um. Die Ungläubigkeit und Überraschung in seinem Gesicht hätten mich fast auflachen lassen.
Plötzlich fühlte ich mich stark und unbesiegbar. Ich wusste nicht, woher ich die Kraft, die Worte, nahm, doch ich sprach zu dem Volk, so laut ich nur konnte: „Mein Vater mag meinen Körper bezwingen können, nicht jedoch meinen Geist. Mein Wille; mein Glaube; die Hoffnung bleibt frei und unerschütterlich. Für meine Mutter, für Calina!"
Ehe ich noch mehr sagen konnte, wurde ich zu Boden geworfen. Meine Sicht verschwamm, alles ging viel zu schnell. Ich fühlte Hände, die mich festhielten, hörte die Schreie aus dem Volk, die Stimme meines Vaters, der versuchte, sie zu beruhigen. Ich roch den Schweiß der Wachen, die sich bemühten, mich auf keinen Fall entkommen zu lassen und ich spürte die Fesseln, die sie mir anlegten.
Ich musste mich nicht wehren, um unsanft behandelt zu werden. Nein, ich ließ alles mit mir geschehen. Das Bild von mir, das Cameron den Leuten verkaufen wollte, durfte nicht wahr werden. Sie würden sehen, dass ich niemals jemanden umbringen würde. Und wenn er schon in diesem Punkt gelogen hatte und die Leute das endlich erkannten, würde es wesentlich leichter sein, auch seine anderen Aussagen in Frage zu stellen.
Und zum ersten Mal hatte ich wirklich die Hoffnung, dass ich gegen meinen Vater ankommen konnte. Ich glaubte daran. Meine Mutter hatte es mir zugetraut, sonst hätte sie mir niemals die Hinweise gegeben und jetzt glaubte ich es auch. Ich würde es schaffen, egal, was geschah. Ein scharfer Schmerz in meinem Arm ließ mich zusammenfahren, doch ehe ich realisierte, was geschah, senkte sie die Dunkelheit um mich wie ein Schleier. Sie umfing mich und zog mich hinab in ihre Tiefen bis es kein Entkommen mehr gab.


Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt