59. Einige Monate später

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Wir hatten recht gehabt und die Gesichtsausdrücke der Leute korrekt gedeutet. Calina hatte die Leute mit ihrer Rede überzeugt. Damit hatte ich jedoch nicht mehr viel zu tun, da Calina beschloss, dass wir wieder in das Schloss in Glücksburg zogen. Mir war das sogar ganz recht, da mich die Erinnerungen an Camerons Anwesen noch immer beschäftigten.
Calina hatte Caleb und Anna angeboten, mit uns zu kommen. Caleb hatte sofort angenommen. Zwar wohnte er zunächst einige Tage bei seiner Familie, kam dann jedoch nach. Da der Weg nach UEC mit dem unterirdischen System kein Problem war, konnte er seine Familie sogar öfter besuchen oder mal zu uns einladen.

Bei Anna war die Sache schon schwieriger. Sie wollte gerne mit uns kommen, doch Calina überzeugte sie, mit ihren Eltern zu reden. Diese waren überglücklich über das Auftauchen ihrer Tochter und wollten sie gar nicht wieder gehen lassen. Es bedurfte viele Stunden an Diskussion, bis Calina sie doch so weit hatte, dass sie zu uns ziehen durfte. Letztendlich sahen sie sogar ein, dass es für sie eine gute Entscheidung war, da sie beruflich viel beschäftigt waren und nun sehr ungebunden.
Es gab jedoch einen Kompromiss. Regelmäßig wollten sie mit Anna skypen oder telefonieren und sie mindestens vier Mal im Jahr persönlich sehen. Doch diesen Kompromiss nahm Anna nur zu gerne an. Im Schloss stellte Calina einen Privatlehrer ein, durch den wir Zuhause unterrichtet wurden. Regelmäßig schickte sie dann Annas Leistungen an ihre Eltern, damit die auch in dieser Hinsicht beruhigt sein konnten.

Es dauerte einige Zeit, bis wir uns eingelebt hatten und unser neues Leben zum Alltag wurde. Doch selbst nach all der Zeit verfolgten mich die Erinnerungen. Je mehr Zeit verstrich, desto besser wurde es, doch komplett verschwanden sie nie. Ich bezweifelte, dass sie je ganz verschwinden würden. Aber so wie es war, konnte ich damit leben. Besonders, nachdem Cameron zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Noch im Gerichtssaal schwor er, es sei noch nicht vorbei, doch das war es.

Calina war nach der Wahl viel mit dem neuen Regierungssystem von UEC beschäftigt. Sie nahm sich jedoch auch die Zeit, mich besser kennenzulernen. Bald kam es mir nicht mehr seltsam vor, plötzlich eine Mutter zu haben. Jedoch wurde mir immer mehr bewusst, wie viel ich versäumt hatte.
Manchmal erwischte ich Calina in sentimentalen Momenten, in denen sie mir erzählte, wie sehr sie sich wünschte, dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, mich aufwachsen zu sehen. Dann versuchte ich, ihr von meiner Kindheit zu erzählen, aber ich wusste, dass das die gestohlene Zeit nicht ersetzen würde. Trotzdem war ich froh, dass Calina noch nicht tot war und ich überhaupt die Möglichkeit bekam, sie kennenzulernen.
Umso besser war es, als das neue Regierungssystem stand. Denn von da an wurde ihr viel Arbeit abgenommen und auf verschiedene Leute verteilt. Zur Feier der Fertigstellung hatte Calina ein Fest organisiert. Ich wusste, dass es nicht nur für die Fertigstellung des Regierungssystems, sondern auch für den Sieg über Cameron und unser Zusammenfinden war.

Anna und ich saßen gerade in meinem Zimmer und unterhielten uns, während sie mir einen Zopf flocht.
„Hat Calina dir erzählt, wen sie alles eingeladen hat?", frage Anna.
Ich wollte den Kopf schütteln, unterließ es aber Anna zuliebe. „Nein, aber ich glaube, die meisten kennen wir eh nicht. Wobei ich mir gut vorstellen könnte, dass Calebs Familie eingeladen ist. Und Karin. Nachdem sie euch befreit hat, hat Calina sie irgendwie belohnt. Und die, die noch daran beteiligt waren, auch."
„Oh, ich freu mich, Aria wiederzusehen. Das letzte Mal ist eine gefühlte Ewigkeit her."
„Definitiv. Denkst du, sie trägt das Kleid, von dem sie letztes Mal erzählt hat?"
Anna lachte. „Wie ich sie kenne, wird sie sich diese Möglichkeit, es zur Schau zu stellen, nicht entgehen lassen!"
Ich musste ebenfalls lachen.
„Hey, halt gefälligst still! Ich versaue sonst deine Frisur."
Ich versuchte, mit dem Lachen aufzuhören, doch das war leichter gesagt als getan. „'tschuldige. Aber daran bist du selbst schuld!"
„Jah, aber du wirst die Konsequenzen dafür tragen müssen." Ich konnte Annas Grinsen förmlich spüren.
Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, streckte ich ihr nur die Zunge raus.
„Ich glaube nicht, dass sich das für eine Dame geziemt", tadelte Anna mich grinsend.
„Siehst du hier irgendjemanden, den das stört?"
„Steht direkt hinter dir."
„Das, würde ich sagen, ist nicht mein Problem."
Ich hörte, wie sich Annas Schritte von mir entfernten. Hatte ich sie jetzt verärgert? Ich wollte mich gerade zu ihr umdrehen, da landete ein Kissen in meinem Gesicht.
„Hey!", rief ich.
Anna lachte. „Das hast du verdient!"
Noch bevor ich aufstehen und mir ebenfalls ein Kissen holen konnte, klopfte es an der Zimmertür.
„Erwartest du jemanden?", fragte Anna.
„Könnte Caleb sein. Er wollte uns zum Fest abholen."
Anna grinste. „Du sagst Bescheid, wenn ich die Fliege machen soll, ja?"
Ich verdrehte die Augen, da öffnete Anna schon die Tür. Caleb trat ein, musterte uns und pfiff. „Gut seht ihr aus!"
Als er eingetreten war, schloss Anna die Tür wieder. „Du siehst aber auch nicht schlecht aus. Malina, ich bin dafür, dass er öfter Smokings trägt!"
Bevor ich etwas antworten konnte, rief Caleb: „Vergiss es! Du glaubst gar nicht, wie unbequem dieser Smoking ist." Er seufzte theatralisch.
„Weißt du, ob Calina deine Familie eingeladen hat?", fragte ich Caleb und wechselte damit das Thema.
„Ja, meine Eltern werden da sein."
„Aria nicht?" Anna sah Caleb verwundert an.
„Sie hat sich wohl beim Sport den Knöchel verstaucht. Der Abend wäre nichts für sie."
„Das holen wir nach!", versprach ich.
„Das wird sie sicher freuen. Seid ihr denn jetzt soweit?"
„Wie spät ist es denn?", fragte Anna.
Caleb grinste. „Die Gäste dürften jetzt alle eingetrudelt sein. Calina wartet mit ihrer Begrüßung aber noch, bis ihr auch da seid."
„Dann lasst uns los!" Demonstrativ stand ich auf und nahm Calebs Angebot an, mich bei ihm unterzuhaken.
Der Festsaal war tatsächlich bereits sehr voll. Leute standen in kleinen Grüppchen zusammen, unterhielten sich und tratschten. Aus Boxen an den Wänden spielte klassische Musik. Calina stand auf einem Podest und ließ ihren Blick suchend über die Menge schweifen. Als sie uns erblickte, lächelte sie und winkte uns zu sich.
Es war gar nicht so einfach, sich durch die Menge zu kämpfen, doch letztendlich kamen wir bei Calina an.
„Es muss schon ewig her sein, seit ich mein letztes Fest organisiert habe." Sie lächelte fröhlich.
„Du warst fünfzehn Jahre gefangen. Es ist eine Ewigkeit her", entgegnete ich.
„Stimmt. Und, ist das dein erstes Fest?"
Ich nickte.
„Gut, dann hoffe ich, dass du viel Spaß hast. Ich denke, jetzt wird es auch Zeit, die Leute zu begrüßen. Ihr könnt einfach das Fest genießen. Macht, worauf ihr Lust habt. Aber bleibt vom Alkohol fern, verstanden?" Mahnend hob sie einen Finger.
„Ich werde auf die beiden aufpassen", versicherte Caleb ihr zwinkernd.
„Na dann kann ja nichts passieren." Sie schmunzelte. „Gut, jetzt aber ab mit euch."
Calina wandte sich von uns ab. Plötzlich schwankte sie. Caleb eilte zu ihr, um sie zu stützen.
„Ist alles in Ordnung?", fragte ich besorgt.
Calina drehte sich wieder zu mir und lächelte mich an, als sei nichts passiert. „Die letzten Tage haben mich etwas geschafft. Zu viel Arbeit und zu wenig Schlaf. Aber das sollte jetzt wieder besser werden. Mach dir keine Sorgen." Sie machte sich von Caleb los und stieg auf das Podest. Obwohl sie wollte, dass wir uns unter die Menge mischten, blieben wir dort stehen, bis sie ihre Rede gehalten hatte.

Doch während Calinas gesamter Rede geschah nichts weiter, weshalb ich mich langsam wieder entspannte.
„Malina, du kannst gerne noch eine Weile hier rumstehen, ich werde jetzt das Buffet plündern." Anna leckte sich über die Lippen.
„Viel Spaß dabei."
Sie grinste und verschwand dann in der Menge.
„Du solltest auch etwas anderes tun und das Fest genießen", merkte Caleb an.
Ich seufzte. „Wahrscheinlich hast du recht."
„Ich habe recht. Und deshalb fordere ich dich hiermit zum Tanzen auf."
Verlegen wich ich seinem Blick aus und strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Ich kann doch gar nicht tanzen."
„Dankst du, das wird hier irgendjemanden stören? Ich kann auch nicht tanzen." Er grinste.
„Dann kann das ja nur eine Katastrophe werden."
„Stimmt. Aber genau das ist doch das Spaßige an der Sache." Er hielt mir seine Hand hin.
Ich seufzte wieder. „Gut, überredet." Lächelnd ergriff ich sie und ließ mich durch die Menge zur Tanzfläche führen.

Caleb sollte Recht behalten. Unser Tanz wurde eine Katastrophe. Tatsächlich traten wir aber nicht uns gegenseitig auf die Füße, sondern den anderen Gästen, die sich irgendwann so sehr beschwerten, dass wir doch lieber die Flucht ergriffen. Ich wollte nicht, dass das auf meine Mutter zurückfiel.
Nichts desto trotz machte es überraschenderweise wirklich Spaß. Völlig außer Atem führte Caleb mich dann zum Buffet, wo er mir einen Drink brachte.
„Was ist das?", fragte ich und beäugte das Getränk.
Caleb verdrehte die Augen. „Fruchtsaft. Ohne Alkohol, wie versprochen."
Ich grinste. „Danke. Übrigens habe ich da hinten deine Eltern gesehen."
„Wo?"
Ich versuchte, Caleb zu beschreiben, wo ich sie zuletzt gesehen hatte."
„Macht es dir was aus, wenn ich kurz ‚hallo' sagen gehe?"
Ich schüttelte den Kopf. „Ich gehe mich noch ein bisschen umsehen."
„Du kannst auch mitkommen. Sie freuen sich sicher, dich wiederzusehen."
Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut. Ich wollte auch noch nach Anna sehen."
Fast wirkte Caleb schon enttäuscht. „Wie du meinst. Wir sehen uns gleich?"
„Klar, bis gleich."
Damit ging Caleb und ich machte mich auf die Suche nach Anna.
Ich brauchte nicht lange, um sie zu finden. Wie angekündigt, war sie zum Buffet gegangen, wo sie sich nun mit einem jungen Mann unterhielt. Ich überlegte, ob ich zu ihr gehen sollte, wollte sie dann jedoch nicht stören. Stattdessen ließ ich meinen Blick durch die Menge schweifen.

Dieser Raum kam mir plötzlich viel zu heiß und zu voll vor. Ich war es nicht gewohnt, dass mich so viele Leute umgaben. Deshalb brachte ich mein leeres Glas weg und ging dann auf den Balkon, der ebenfalls zum Festsaal gehörte. Eine Frau mit einer Hochsteckfrisur stand bereits dort an das Geländer gelehnt und rauchte.
„Willst du auch eine?", bot sie mir an, als ich mich ihr näherte.
Ich schüttelte den Kopf.
„Wenn du nicht zum Rauchen hier bist, dann wohl, weil dir das Fest zu viel geworden ist. Dein erstes?"
Ich lächelte. „Ist das so leicht zu durchschauen?"
„Naja, sonst kommt hier niemand her. Hast du denn gar keine Begleitung? Nein, warte. Du bist Calinas Tochter, oder?"
„Ja, das bin ich; Malina. Und Sie sind?"
„Entschuldige, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Karla. Neuerdings behalte ich den Überblick über die Finanzen von UEC. Es freut mich, dich kennenzulernen." Sie hielt mir die Hand hin, ich schüttelte sie.
„Gleichfalls."
Von drinnen trat ein Mann zu uns auf den Balkon und sah Karla auffordernd an.
„Ich muss mich jetzt leider wieder verabschieden. Viel Spaß noch." Sie lächelte.
„Danke, Ihnen auch."
Karla warf ihre Zigarette über die Brüstung und ging dann mit dem Mann nach drinnen.

Ich lehnte mich auf die Brüstung und genoss die kühle Nachtluft. Es war bereits dunkel draußen und wäre es nicht so bewölkt, hätte ich die Sterne sehen können. Einige Laternen beleuchteten schwach den Balkon und den Innenhof.
„Na du." Plötzlich tauchte Caleb neben mir auf.
„Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst bei deiner Familie."
„Jah, wir haben uns kurz unterhalten und dann sind wir wieder unserer Wege gegangen. Dies ist zwar ein Fest, jedoch hat Calina es auch geschäftlich angelegt. Die Mitarbeiter können sich untereinander besser kennenlernen und sich über ihre Arbeit austauschen. Nebenbei können sie ein paar Kontakte zu höhergestellten Personen knüpfen. Meine Eltern lassen sich diese Chance auch nicht entgehen."
„Als ob die beiden das nötig hätten."
„Wahrscheinlich nicht, aber sie mischen trotzdem mit. Du kennst sie ja." Er schmunzelte.
Ich lachte. „Da hast du auch wieder recht."
„Ich habe immer recht." Er grinste selbstgefällig.
„Das denkst auch nur du!"
„Ich bin sicher, Anna ist da ganz meiner Meinung."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Ganz bestimmt. Hey, kommst du mit runter? Ich muss mir die Beine etwas vertreten."
Caleb nickte. „Klar doch!" Dann hielt er mir den Arm hin und ich hakte mich bei ihm unter.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt