16. Die Vision

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Das Medaillon führte uns zu einer riesigen weißen Flügeltür. Sie war größer als alle anderen Türen in der Nähe, allerdings war das Haus um sie herum auch nicht verziert. Ich vermutete, dass es einst ziemlich prunkvoll ausgesehen hatte, da an einigen Stellen noch Putz abblätterte und man ein Reliefmuster erkennen konnte. Allerdings war es mit der Zeit ziemlich verwittert und kaum noch zu erkennen.
„Was ist hier?", fragte ich.
Aria musterte die Tür und kniff die Augen zusammen. „Ich war noch nie hier. Ich glaube, es wurde uns sogar verboten herzukommen."
„Also muss das, was dahinter ist, wertvoll sein", schlussfolgerte Anna.
Aria nickte. „Lasst uns herausfinden, was das ist."
„Was ist, wenn da drin jemand ist?" Ich griff instinktiv nach meinem Medaillon.
Aria schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn das Gebäude tatsächlich in Benutzung wäre, hätte man es restaurieren lassen."
Ich nickte. Mein Bauch kribbelte, als ich meine Hand um den Griff legte. Das Metall war kalt. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und öffnete dann die Tür. Sie knarrte und ein muffiger Geruch kam uns entgegen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Tür abgeschlossen sein würde, aber hier vertraute man wohl darauf, dass die Leute die Regeln befolgen würden.
Ich atmete noch einmal tief durch, ballte meine Hände zu Fäusten und betrat dann unsicher den Raum. Es war dunkel und ich konnte nichts erkennen, dann legte Aria jedoch einen Lichtschalter um. Das Licht flackerte kurz und erhellte dann den Raum.

Ich sog scharf Luft ein. So alt das Gebäude von außen auch aussah, hier drinnen war nichts von dem Verfall zu erkennen. Der Boden war aus edlem Parkett und so glatt poliert, dass ich mich darin spiegeln konnte. Die Wände waren mit Gold und Stuck verziert, sowie auch die Möbel. Ein Himmelbett bildete den Höhepunkt des Zimmers. Darüber hing in einem goldenen Rahmen ein Gemälde meiner Eltern.
Sie hatten hier gelebt! Meine Mutter war hier gewesen. Vielleicht hatte sie sogar in genau diesem Zimmer den Brief an mich geschrieben. Ich glaubte, ihre Anwesenheit zu spüren, sie zu sehen. Plötzlich konnte ich eine leise Melodie hören, sie zog mich fort von der Realität. Ich konnte meine Mutter sehen, wie sie tanzte. Doch über ihr Gesicht liefen Tränen. Um uns herum wurde alles schwarz, ich sah nur noch sie, als würde jemand einen Scheinwerfer auf sie richten. Sie trug ein wunderschönes blaues Kleid, glich darin einem Engel – einem gefallenen Engel. Und ich wünschte mir nur, sie könnte jetzt bei mir sein. Ich wünschte mir, sie würde mich ein einziges Mal in den Arm nehmen und ich könnte mich bei ihr sicher fühlen. Ich sank auf die Knie.
„Malina? Malina!" Annas Stimme drang an mein Ohr, das Bild meiner Mutter verblasste. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich weinte. Anna kniete neben mir und hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt.
„Malina, ist alles in Ordnung?"
Ich zitterte. Langsam drehte ich mich zu Anna.
„Malina, sprich doch mit mir!"
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Was... was ist passiert?", stammelte ich.
„Was passiert ist? Das wollte ich von dir wissen! Dein Blick ist auf einmal ganz glasig geworden und dann haben deine Hände und dein Medaillon angefangen zu leuchten, was hast du gemacht?"
„I-ich weiß es nicht." Meine Hände zitterten noch immer. „Ich habe meine Mutter gesehen."
„Sie hat gezaubert. Das war eindeutig Magie." Aria schien erschreckend gelassen.
Ich stand auf. „Aber ich weiß doch gar nicht, wie man das macht!" Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
„Das kann schon sein. Ich vermute, dass deine Gefühle die Magie ausgelöst haben. Durch das Medaillon sollte das möglich sein. Was genau hast du gesehen?"
„Meine Mutter. Sie war da und... und hat getanzt. Und dann war da diese Musik." Wieder hatte ich das Bild vor Augen.
„Du hattest wohl eine Vision."
„Also i-ist das wirklich passiert?" Wieder liefen mir Tränen übers Gesicht.
„Das muss nicht sein."
„Was ist dann passiert?"
Aria zog den Kopf ein wenig ein und sah mich entschuldigend an. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich weiß zwar viel über Magie, aber das, was UEC weiß, ist noch nicht mal ein Bruchteil von dem, was die Feen wahrscheinlich darüber wissen."
Ich wandte den Blick ab und wischte mir übers Gesicht.
„Alles in Ordnung?" Anna musterte mich besorgt.
Ich nickte. „Lasst uns den Raum nach Hinweisen absuchen." Ohne auf ihre Antwort zu warten, ging ich weiter in das Schlafzimmer meiner Eltern.

Malina und AnnaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt