~ Fünf ~

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Es war so weit, dachte Niall eine halbe Stunde später, und fühlte wie das Adrenalin in seinen Körper zurückkehrte. Die Leere schien zwar immer noch überwiegend, aber er bemerkte die knisternde Spannung, die sich nun wieder in ihm ausbreitete. Langsam, beinahe träge, bewegte sie sich durch seinen Körper, um nacheinander jedes Körperteil unter Strom zu setzen. 

Es war Qual und Erlösung zugleich.  
Er musste ankündigen, dass die Band auf der Suche nach einer neuen Sängerin war - die Jungs hatten sich – anders als geplant - nicht überreden lassen, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen.  

Niall stand wieder auf der Bühne, das Konzert war so gut wie gelaufen. Langsam wendeten sich die Leute von der Bühne ab und zur Bar hin, um den Abend doch noch alkoholisiert ausklingen zu lassen. Niemand scherte sich um die vier Trottel, die noch auf der Bühne standen und etwas verkünden wollten. Oder zumindest scherte sich niemand um die drei Trottel, Niall würde den Abend nämlich lieber betrunken beenden, als beschämt durch die Tatsache, dass sie sich tatsächlich dazu herablassen mussten, in einer Bar nach einer Sängerin zu suchen. 
Ging es noch ein bisschen klischeehafter?   

In einer Bar würden sie vielleicht eine Frau, seinetwegen auch eine - Pseudo - Sängerin, für eine Nacht finden, die nicht mehr und nicht weniger, als ein kleines Abenteuer war, über das sie am nächsten Morgen, wenn die Härte der Realität sie wieder eingenommen hatte, herzhaft lachen würden. Aber, was sie hier ganz sicher nicht finden würden, war eine echte Sängerin.
Vielleicht lag es an dem Begriff 'Sängerin', dachte Niall schmunzelnd. Vielleicht war es der Grund, warum Niall der ganzen Sache nicht mit der erwarteten Ernsthaftigkeit gegenüber treten konnte. Es klang albern und banal, wie aus einer schlechten amerikanischen Komödie, in der sich am Ende durch den Lauf des Schicksals – oder wie auch immer man es bezeichnen, oder nicht bezeichnen wollte-, der coole Typ aus dem Club sich in das Mädchen von Nebenan verliebte. Einfach so. Warum auch immer. 

So ein Drehbuch schrie doch gerade nach: „Kauf mich, Hollywood! Ich bin preiswert, oberflächlich und spiele Geld in die Kassen ein. Das Mainstreame Publikum wird mich lieben“. Aber das hier war nicht Hollywood. Das hier war zwar eine Großstadt, wie man sie aus dem Bilderbuch kannte: Groß, laut, und unverständlich. Aber das Leben hier war anders.

Es war ein Leben in Anonymität, Einsamkeit und wenigen albernen Momenten des Zusammengehörigkeitsgefühls, die lediglich einem gewissen Alkoholpegel zu zuschreiben waren.
Fakt ist, dass man bei dem Wort 'Sängerin' einfach nicht an eine ernstzunehmende Persönlichkeit dachte. Nein, da waren andere Assoziationen deutlich passender. 
Sängerin schrie gerade nach Talentfreiheit, Naivität und Dummheit. 

Und die Erkenntnis dieser schmerzhaften Wahrheit wollte Niall den Jungs ersparen, indem er ihnen ein – oder auch zwei – Bier ausgab, bis sie vergaßen, was das Wort 'Sängerin' eigentlich für eine Bedeutung hatte. Nämlich, gar keine. 

Sein Plan hatte jedoch im Angesicht der Tatsache, dass er diese Ankündigung machen musste, dummerweise nicht funktioniert, anders als bei den letzten Malen, bei denen den Jungs nach ein paar Bier nahezu alles gleichgültig war.
Wie heiße ich? Wo wohne ich? Wer bin ich? Nichts zählte mehr. Nur dieses wunderbar berauschte Gefühl des Nichtsempfindens. Unglaublich.
In Ordnung, sprach Niall sich selbst Mut zu. Er würde diese Sache einfach schnell hinter sich bringen, wahrscheinlich würde sich sowieso niemand melden und vorsingen wollen. Vorsingen, dachte Niall angewidert, das klang wie ….wie ein Casting. Einfach widerlich.
Selbst wenn sich jemand melden würde, sie würde sowieso nicht singen können, sondern sich nur wie ein Groupie benehmen. Genau so würde es laufen, da war er sich sicher. Totsicher.  

„Okay Leute, wir wollen das alles schnell hinter uns bringen“, fing Niall an gelangweilt ins Mikrofon zu sprechen, bedacht darauf seine Bandkollegen nicht anzusehen.
Sie hatten ihm ja nicht gesagt, in welchem Ton er die Ansage machen sollte. 

„Also“, fuhr er fort. „Wir sind ……wir wollen…“ Niall räusperte sich einmal kurz. Die Worte fehlten ihm. Und zwar aus gutem Grund: Weil sie sinnlos waren. 

Er würde nicht das sagen, was die Jungs von ihm verlangten, und sich damit vollkommen zum Trottel machen.

„Wir wollen doch auch mal die anderen zu Wort kommen lassen“, sagte Niall stattdessen schnell und rief Liam zu sich, während ihm ein diabolisches Grinsen über das Gesicht huschte.

 „Liam wird euch jetzt mal ein bisschen was erzählen, also hört gut zu“, sagte er schmunzelnd und klopfte Liam kameradschaftlich auf die Schulter, der ihn mit einem Blick bedachte, der so viel heißen sollte wie: Das kannst du mit keiner Menge Alkohol wieder gut machen. 

Das hatte Niall auch gar nicht vor. 
Denn wenn Niall diese Krise doch noch irgendwie abwenden konnte, würden die Jungs ihm einen Gefallen erweisen müssen. Und mit einem lächerlichen Bier war das bei ihm sicherlich auch nicht getan. Sie würden leiden müssen.  

Niall zuckte lässig mit den Schultern und lehnte sich grinsend an Harrys Schlagzeug, um die Szenerie aus einiger Entfernung belustigt beobachten zu können. 
Na gut, es war nicht fair gewesen, sich Liam für seinen bösen Rachefeldzug auszusuchen, räumte er schließlich etwas unwillig ein, er war schließlich das schwächste Glied in der Band, aber Rache war nicht gerecht. Ganz und gar nicht. 

Und das würde nun auch Liam am eigenen Leib schmerzhaft erfahren müssen. 

„Gut, was Niall sagen wollte, aber anscheinend nicht konnte ist,…“, fing Liam sichtlich wütend an, während die Leuten begannen zu lachen, „...dass wir Verstärkung suchen, weibliche Verstärkung. Also, wenn ihr Interesse habt, unsere neue Sängerin zu werden, dann meldet euch gleich bei uns - wir machen im Anschluss an das Konzert ein Casting.“ 

Ein Casting, dachte Niall erneut angewidert und verzog das Gesicht, während die anderen Jungs von der Bühne aus noch wenig mit den Damen der Schöpfung flirteten.
Niall zog es währenddessen vor, einen Blick auf die Kleine zu werfen.
Sie wirkte überrascht über die Neuigkeit, ihre kindlichen Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund stand ein wenig offen. Niall schmunzelte, sie sah schon ein bisschen merkwürdig so aus. Eine Spur geisteskrank und kindlich zugleich.

Doch für einen kurzen Moment sah er so etwas wie Hoffnung in ihren Augen aufblitzen. Ehrliche Hoffnung. Hoffnung, die nur so intensiv empfunden werden konnte, wenn man sie lange nicht mehr für möglich gehalten hätte. Wie der kleine aufspringende Funken, bevor das große Feuerwerk begann, blitzte er in ihren Augen auf, um für einen Moment die Aufmerksamkeit auf sich zu richten, und dann wieder zu verschwinden, und das große Feuerwerk in den Vordergrund rücken zu lassen. 

Aber für diesen kurzen Zeitraum war Niall gebannt von ihrem Blick. 
Doch der Augenblick verging und dann wirkte sie wieder bemüht gelangweilt. 
Niall wandte sich enttäuscht ab. Er hatte doch Recht gehabt: Sie war nur ein kleines Mädchen, dem Musik nichts bedeutete.

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Ich glaube da liegt er nicht ganz richtig.

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