~ Zwölf ~

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Aleyna konnte nichts anderes tun, als Niall nachzusehen.
Sie war sich über die Tatsache bewusst, dass sie vermutlich nicht besonders normal in dieser Situation wirkte, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen egal.

Eine Starre umgab sie, die sie, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht lösen konnte. Weder konnte sie sich bewegen, noch sprechen. Sie war nur noch eine seelenlose Hülle, die dazu verdammt war, auf diesem Platz stehen zu bleiben.

Erst, als Niall aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, traute sich ihr Körper wieder auf irgendetwas zu reagieren. Aleyna ließ ihren Blick zu den leeren Wänden auf ihrer rechten und linken Seite schweifen. Es waren leere Wände ohne jegliche Inspiration, so ähnlich sah es vermutlich auch in ihrem Kopf aus.
Wie betäubt lief sie den Gang entlang ohne nach rechts und links zu sehen, jede Ablenkung war zu viel. Sie beschleunigte ihre Schritte, plötzlich hatte sie es besonders eilig, dieses Gebäude zu verlassen, dieser Atmosphäre und den Gedanken an sie, den Rücken zu zukehren, endlich wieder Luft zum Atmen zu haben. Einen freien und weiten Blick auf irgendetwas, egal was zu riskieren.
Beinahe blind stolperte sie die massive Steintreppe hinunter und blieb dann auf der letzten Stufe stehen, um sich hinzusetzen.
Zitternd schlang Aleyna die Arme um ihren Körper, die Hände zu Fäusten geballt.

Der Zettel lag immer noch zusammengeknüllt in ihrer linken Hand, während das Verlangen, ihn zu öffnen von Sekunde zu Sekunde größer wurde, in der sie nichts unternahm.
Sie versuchte sich einzureden, dass dieses winzige Stück Papier nichts zu bedeuten hatte, aber ihre Hoffnungen waren wohl unsterblich.
Unwillkürlich begannen in ihrem Kopf Bilder zu entstehen: Bilder von Freiheit, dem Gefühl des Angenommenseins, der Freude und der Musik.

Ihre Hände bahnten sich einen Weg in ihre Haare und krallten sich dort fest, nur um irgendeinen Halt zu finden. Fest zog sie an einzelnen Strähnen bis sie langsam den Schmerz spürte, der ihren Körper langsam überzog.
Doch der Schmerz ließ sie klarer denken.

Sie setzte sich aufrecht hin, ließ ihre Haare und Hände zu Ruhe kommen und atmete einmal tief durch.
Was sollte dieser Zettel schon heißen können, versuchte sie pragmatisch zu denken. Vermutlich nichts. Es war albern, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Vielleicht wollte Niall sich nur einen Spaß erlauben, er hatte gesehen wie sehr sie von seiner Musik gebannt war, und nun wollte er nur ihre Hoffnungen ein bisschen schüren, um sie dann mit einem Windstoß wieder wegfegen zu können.
Das bedeutete für sie, dass..., dass sie ihre Erwartungen soweit zurückschrauben musste wie es ging, damit Niall keine Macht über sie bekam.

Das klang in der Theorie ja alles ganz einfach, aber die Praxis würde schwerer durch zu führen werden.
Aber was wäre, wenn er sie tatsächlich singen gehört hatte?
Könnte es sein, dass er sich wirklich etwas bei diesem Zettel gedacht hatte?
Beim Gedanken daran, dass Niall sie hatte singen hören, spürte sie wie ihr warm wurde.

Zu warm.

Aleyna hatte nicht gut gesungen, und dass wusste sie auch, sie hatte ihre Stimme schon so lange nicht mehr ernsthaft benutzt und das hörte man ihr an.
Ihre Stimme klang unbenutzt, brüchig und nicht besonders aussagefähig.
Das war sie aber schon immer gewesen, da musste sie sich nichts vormachen.
Aber das er das gehört hatte....Nein, das ging nicht.

Es schmeichelte ihr nicht, auf gar keinen Fall, sie hatte eher das Gefühl, dass sie alles von sich preisgegeben hatte, an einen Menschen, den sie noch nicht einmal kannte.
Sie war nie eine gute Sängerin gewesen, sondern nur Durchschnitt.
Und Durchschnitt mochte vielleicht reichen, um in der Schule durchzukommen, aber in der Welt der Musik bedeutete Durchschnitt schlecht. Es bedeutete, nicht gut genug zu sein, nie gut genug zu werden. Durchschnitt bedeutete einmal die Woche zum Musikunterricht zu gehen, aber nie vom Lehrer gefragt zu werden, ob man nicht an einem Vorspiel teilnehmen wollte. Gute Musiker waren nicht durchschnittlich.
Musiker waren grandios, atemberaubend gut oder unglaublich, aber nicht durchschnittlich.
Und ein Mensch, der die Musik wirklich liebte, würde aufhören sie zu spielen, wenn er wüsste, dass er nur Durchschnitt war. Und trotzdem gab es eine Menge durchschnittlicher Musiker.

Warum? Weil es nichts Befreienderes als Musik gab.
Nichts, dass schöner war, als das Gefühl, ein Stück einmal perfekt gespielt zu haben. Nichts, dass aufregender war, als der Moment bevor die Musik einsetzte, oder man die Finger auf die Saiten setzte und spürte wie sich eine Kuhle an der Stelle bildete, an der man die Saite berührt hatte. Zumindest für einen Gitarristen.
Und wenn Aleyna ehrlich war, ging es ihr ganz genauso mit dem Singen.

Sie hatte es vermisst. Sie hatte vermisst, ihre Stimme endlich wieder benutzen zu können, Gefühle und Emotionen auf diese Art und Weise auszudrücken zu können, weil es so viel einfacher war, als sie auszusprechen.
Und hatte sie davon nicht immer geträumt? Hatte sie nicht immer davon geträumt, endlich etwas zu wagen, um ihrem Traum näher zu kommen? Den Traum, Musik machen zu können, den sie eigentlich schon längst begraben hatte.

Und nun? Nun flammten leise Hoffnungsfunken in ihr auf, in einer Intensität, die sie nicht mehr fassen konnte. Alles in ihr wehrte sich gegen die Zerrissenheit in ihr selbst.
Da war einerseits der Wunsch nach Freiheit, nach einfach mehr, aber auch die ständig präsente Bequemlichkeit, dass sie sowieso nichts ändern konnte. Es würde sowieso nichts bringen.
Der Zettel fiel ihr aus der Hand. Langsam glitt er zu Boden, bis er schließlich auf den grauen Steinboden vor ihr lag. Sie konnte ihrem Blick nicht von ihm wenden, aber sie musste es.

Bestimmt blickte sie zurück zum Eingang der Musikschule, aber es half alles nichts: Ihre Augen mochten auf das rote Backsteingebäude vor ihr gerichtet sein, ihre Gedanken waren es nicht.
Einen Blick konnte sie doch riskieren, es würde im Nachhinein sowieso nichts ändern, redete sie sich ein.
Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und nahm den Zettel in die Hand. Sie hielt ihn, als ob er so zerbrechlich wäre wie Glass.

Minuten vergingen, in denen sie nur auf ihn herab starrte, ohne irgendeine Bewegung auszuführen.
Gib dir einen Ruck, Aleyna, wies sie sich selbst an. Du führst dich so auf, als ob es hier um eine Nachricht ging die dein Leben von Grund auf verändern würde.
Gab es den richtigen Zeitpunkt, um etwas zu tun? Gab es den richtigen Zeitpunkt, um zu springen, zu singen, zu lachen, zu weinen, um.....etwas zu wagen? Nein.

Nein, denn im Leben konnte man für nichts bereit sein. Es gab nicht den einen richtigen Zeitpunkt, sondern nur diverse mögliche Zeitpunkte.
Manche davon waren weniger gut und manchen waren besser, aber perfekt würde keiner sein.

Noch einmal atmete sie tief ein, bevor sie hörbar wieder ausatmete. Sie war bereit.
Dann faltete sie den Zettel schließlich auf und fand eine unbekannte Adresse vor.

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La la la.... Merkt ihr wie ähnlich die beiden sich eigentlich sind, in ihren Gedankengängen?

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