~ Elf ~

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Niall wartete, bis die Tür ins Schloss fiel, erst dann traute er sich, leise einen Schritt  in den Flur zu setzen. Den Atem anhaltend, lehnte er sich erschöpft gegen die weiße Wand gegenüber das Raumes, in dem die Kleine verschwunden war.

Das hier, diese ganze Aktion, war vollkommen albern, sagte Niall sich immer wieder, doch diese Tatsache hielt ihn nicht davon ab, sich so nah wie möglich an die Tür zu stellen, hinter der die Kleine verschwunden war, und seine Ohren zu spitzen. 
Stühle wurden hin und her geschoben, ein Lachen erklang, ein Reißverschluss wurde geöffnet, und eine Gitarre gestimmt. 
Die G- Saite war vollkommen verstimmt, bekam Niall noch am Rande mit, zu tief, dass schien auch irgendwann die Instrumentalistin mitzubekommen. 

Ein Gespräch begann, er bekam nur Wortfetzen mit, aber nichts, dass wirklich von Bedeutung war. Höchstwahrscheinlich das übliche leere Gerede über das Leben an der – angeblichen - Spitze der Gesellschaft. So ein Quatsch, schalt er sich selbst. 
Was machte er eigentlich hier? Warum interessierte ihn das alles überhaupt? 
Oder noch viel schlimmer: Warum interessierte er sich dafür, was die Kleine hier tat?

In Ordnung, sie spielte Gitarre. Na, und? Wie 50 Prozent der Gesamtbevölkerung auch.  
Das war noch lange kein Grund, ihr aufzulauern, oder gar Interesse an ihren Nachmittagsaktivitäten zu zeigen.
Wahrscheinlich wollte ihre Freundin, Ornella, nur ein bisschen Schicksal spielen. Und er war hoffnungslos in die Falle getappt. Wohlgemerkt in die Falle eines Teenagers.

Er sollte gehen. Jetzt sofort.
Trotz all der Gründe, die für einen sofortigen Rückzug sprachen, überwand Niall seine durchaus richtigen und triftigen Vorwände, einfach zu gehen, und lauschte weiter. 

Er bekam mit, wie leise eine Melodie gespielt wurde, die sehr bekannt und geradezu für die Gitarre gemacht war. Die Töne wurden allerdings nur zaghaft gespielt, fast vorsichtig und standen damit so vollkommen im Gegensatz zu der Erinnerung, die Niall an diesen Song hatte.

In seinen Ohren klang dieser Song zwar nicht laut und durchdringend, aber zumindest eine Spur standhafter und wehmütiger.
Es war „Dust in the Wind“ von Kansas. Mindestens zehn Jahre alt.
Trotzdem eine durchaus beachtliche Leistung für eine Musikschule, die dafür bekannt war, die Schüler mit Bach, Chopin und Beethoven zu quälen, einen solchen Song zu lehren. 
Er selbst hatte das Stück auch vor einigen Jahren spielen und schätzen gelernt.

Es war eine Melodie, die zwar nicht viele Variationen hatte, aber so prägnant war, dass sie nur einmal gehört werden musste, und dann sofort im Gedächtnis blieb, weil sie so sehnsüchtig und harmonisch zugleich war.

Der Song klang nach einem sehnsüchtigen Abschied. Wenn Niall ihn hörte, stellte er sich immer eine kleine Szenerie im September vor, die den Übergang vom Sommer zum Herbst ankündigte.
Die Baumkronen begannen sich bereits zu färben und der Wind wurde schneidender, trotzdem schien noch ab und zu die Sonne durch das dichte Gestrüpp.

Viele Menschen verbanden mit „Dust in the Wind“ ein Gefühl von Trauer und Enttäuschung, sie wollten den Song nicht gerne hören, weil er sie an schlechte Erfahrungen erinnerte, an die dunkelsten Momenten in ihren Leben, aber bei Niall war das anders.
Er empfand es als entspannend nur den Gitarrenklängen zu lauschen und sich zurückzulehnen, um der ruhigen Melodie zu lauschen, die die Übergänge von einem Akkord zum nächsten beinahe fließend bewerkstelligte, während er nur die Augen schließen musste, um entspannen zu können. 

Natürlich trug der Text des Stückes zur üblich empfundenen Trauer bei. Es ging um plötzliche Verluste. Und obwohl die Menschen immer wieder Verluste zu beklagen hatten, erstaunte es sie doch jedes Mal wie schnell die Dinge sich verändern konnten. 
Nichts blieb für immer und deshalb sollten die Menschen nicht versuchen, etwas wissentlich festzuhalten.   

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