~ Zweiundvierzig ~

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„Wie meinst du das?“, fragte Ali und sah ihn schief an. 

Von einem Augenblick zum Nächsten war sie wieder die Alte geworden. Kratzbürstig wie eh und je. 
Ali stand auf und stellte die Gitarre weg, den Blick trotzdem auf Niall gerichtet. 
Niall musste kurz in sich hinein lachen, sie fühlte sich unwohl, wenn sie nicht wusste, was er als Nächstes sagen würde. Wenn sie seine Taktik nicht durchschauen konnte. 
Ihr war bewusst, dass sie sich ihm gegenüber verletzlich gezeigt hatte und hatte nun Angst, dass er dieses Wissen gegen sie ausspielen würde. Aber diesen Gefallen würde er ihr nicht tun.

„Genauso wie ich das sage“, antwortete Niall ihr geheimnisvoll, um sich Zeit zu verschaffen. Zeit, damit sein Gehirn irgendetwas mit den gerade gewonnen Informationen anstellen konnte.

„Wieso fällt es dir so einfach dieses Stück so gefühlvoll zu spielen, dass es nahezu an Perfektion grenzt? Und wieso bitte kannst du dieses Gefühl nicht in deine Songs transportieren“, schoss es fassungslos aus Niall heraus.

Ali sah ihn einige Sekunden lang perplex an und schüttelte dann den Kopf, als ob sie einen Gedanken vertreiben wollte. Er konnte ihr ansehen, dass sie ihm nicht glaubte. 
Trotzdem machten sich kleine Hoffnungsfunken in ihr breit, von denen sie ganz genau wusste, dass es nicht mehr viele Worte seinerseits brauchen würden, um es in ein Feuer ausbrechen zu lassen. Sie hatte Angst vor ihrer eigenen Hoffnung. 
Dem Funken Hoffnung, denn wir alle in uns tragen sollten, damit wir am Leben bleiben. Und genau diesen Funken versuchte sie gerade mutwillig zu zerstören. 
Das war doch nicht normal. 

„Erklär mir das, bitte“, entgegnete Niall ihr hart und unnachgiebig, während er sich gestresst durch die Haare fuhr. 

„Niall“, entgegnete Ali ihm fassungslos. „Das ist ein klassisches Stück. Da gibt es Regeln und Hinweise, die man einfach befolgen muss. Genau das tue ich. Aber bei einem Song ist das an…“ 

Er ließ sie nicht aussprechen, sondern feuerte gleich seine nächste Tirade ab. 

„Ali, es gibt keine Regeln in der Musik. Du kannst mir nicht erzählen, dass du einfach den crescendo und decrescendo Hinweisen folgst und keine eigene Interpretation in den Stücken, die du spielst steckt. Denn dann hättest du das Stück nur gut spielen können und nicht sehr gut.“ 

Niall konnte sich gar nicht mehr einkriegen, ihre oberflächlichen Antworten ärgerten ihn. Er konnte und wollte ihr nicht glauben, dass es einfach nur um eine gute Technik ging. Denn das würde bedeuten, dass Ali wirklich nicht verstanden hat, worum es ihm ging, worum es bei der Musik ging. 
Technik und Übung machten viel aus in der Musik, aber um eine Zustand zu erreichen, der zwar nie Vollkommenheit wiederspiegeln würde aber ein Glücksgefühl bei dem Instrumentallisten und dem Zuhörer hervorrief, braucht es nun mal Herzblut. 
Berühmte Musiker, ernste Musiker waren nicht erfolgreich, weil sie sich an ein paar Bemerkungen auf einem Blattpapier hielten, sondern weil sie sich mit sich selbst in der Musik beschäftigen. 

„Ich kann dir das nicht erklären, ich wünschte ich könnte es“, fuhr Ali nun ruhiger aber immer noch fassungslos fort. 

„Aber alles, was ich spiele und wie ich es spiele kommt einfach über mich. Da steckt kein Geheimnis oder ähnliches dahinter. Manchmal weiß ich gar nicht, wenn ich spiele, ob meine Finger noch unter meiner Kontrolle stehen, dass mein Körper, meine Gedanken sie lenken oder sie ein Eigenleben entwickeln.“ 

Sie schnappte matt nach Luft. Sie hatte sich genauso wie er gerade in Rage geredet, aber wenigstens war er sich jetzt bewusst, dass sie erstens nicht wusste, wie viel verdammtes Glück sie hatte mit einem solchen Verständnis für die Musik beschenkt worden zu sein und zweitens, dass auch sie eine Veränderung an sich spürte, wenn sie spielte. 
Eine nicht ganz so schlechte Ausgangslage, wie er anfangs gedacht hatte.

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