~ Dreiundvierzig ~

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Ruhig ein – und ausatmen, fuhr Aleyna sich immer wieder an.
Beinahe mechanisch biss sie sich immer wieder auf die Zunge, um ihre Tränen zu unterdrücken, während sie immer wieder schmerzhaft schlucken musste. 
Wie konnte so etwas nur passieren? Wie konnte ihr nur so etwas passieren?
Sie hatte vollkommen die Kontrolle über sich selbst und ihre Empfindungen verloren, das war ihr noch nie passiert. 
Und dann?
Was dann passiert war, erinnerte an einen wirklich schlimmen Albtraum. Mit einem Unterschied. Es war die Realität gewesen. Eine grausame, irreale und verstörende Realität, aber sie war echt.

Aleyna fühlte sich auf eine merkwürdige Art und Weise vollkommen leer und ausgelaugt. Sie hatte all ihren Emotionen freien Lauf gelassen, und nun war alles weg. Wie ausgelöscht. Alles, was zurück blieb, war eine seelenlose Hülle, die einmal sie selbst war und ein dumpfer Schmerz. 
Er wollte dich nicht verletzen, sagte sie sich selbst, aber wirklich daran glauben konnte sie nicht. Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht, weil die Demütigung noch zu frisch war. Aber mit solchen Ereignissen war es doch so, man verdrängte sie, entfernte sie aus dem Gedächtnis und irgendwann holten sie dich mit der Geschwindigkeit eines Tsunami wieder ein. Aber dieses dumpfe Gefühl würde vielleicht nicht so intensiv, wie beim ersten Empfinden sein, aber doch intensiv genug, um es nie wieder zu vergessen…

„Ali?“, hörte sie eine Stimme sagen und wollte bereits den Kopf wieder heben, um den Sprecher der Stimme zu identifizieren, da stieß sie bereits mit ihm zusammen.
Wütend schoss ihr Kopf in die Höhe und sie taumelte Schritt für Schritt von Harry weg, der sie neugierig musterte. 

„Es tut mir leid“, schoss aus ihr heraus, als sie ihn erkannt hatte. „Tut mir leid.“

„Schon in Ordnung“, antwortete Harry ihr lachend und hielt sie an der Schulter fest, um ihr Halt zu geben, während er sie weiterhin musterte. 
Sofort senkte sie wieder ihren Blick, damit er ihre roten geäderten Augen nicht sehen konnte und eigene Schlüsse daraus zog. Harry, dem diese Geste des Versteckens nicht entgangen war, fixierte seinen Blick nur noch weiter.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie ihn ablenkend, während sie ihre eigene Gitarre neu schulterte und den Griff um die Westerngitarre verstärkte.

Es war eine nicht ganz unlogische Frage, schließlich hatte er und die anderen Jungs längst Feierabend gehabt. Was machte er also draußen vor dem Proberaum? 

„Die Frage ist doch eher, warum ich nicht hier sein sollte?“, entgegnete Harry und sah sie augenzwinkernd an, als ob es sich bei diesem Sachverhalt um eine Tatsache halten würde. Ihr allerdings war diese Logik schlichtweg entgangen. 

„Ich wohne mit Liam zusammen“, erklärte Harry es schließlich und grinste sie wieder an. Ali nickte wissend. Daher wehte also der Wind. 

„Ist er immer noch wütend?“, fragte  sie ihn. „Wir haben es ja nicht so ernst gemeint. Nur seine Besserwisserei…“

Ali ließ den Satz in der Luft hängen, doch Harry schien zu verstehen, was sie sagen wollte.

„Geht einem manchmal ganz schön auf die Nerven, verstehe ich vollkommen“, erwiderte Harry ihr lächelnd, während er ihr die Westerngitarre aus der Hand nahm. 
„Ich lebe jetzt schon drei oder viere Jahre mit ihm zusammen, ich weiß wovon ich spreche. Wo lang musst du eigentlich?“, fragte er sie, während er die Augenbrauen zusammenzog. 

„Da lang“, instruierte Ali ihn und zeigte Richtung geradeaus.
„Du musst aber nicht mitkommen“, beeilte sie sich schnell hinzu zu fügen. 

Es war schon so schwer genug, irgendwie normal zu wirken und wenn Harry sie jetzt auch noch den ganzen Weg über nach Hause begleiten würde, konnte sie für nichts mehr garantieren.

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