~ Zweiundsechzig~

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Was machte er hier eigentlich? Warum war er überhaupt hierhergekommen – gerade hier hin – und war nicht einfach zu Hause geblieben?
Was erhoffte er sich?
Ein freudiges Wiedersehen mit seinen Eltern? Seinen Eltern, die er über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte? Die er das letzte Mal an Weihnachten gesprochen hatte? 
Suchte er nach Antworten auf Fragen, die er nie finden würde? Was bitte wollte er hier? 

Die Vorstellung, dass Menschen zu ihren Wurzeln, ihrer Heimat zurückkehrten, um wieder zu sich selbst und ihren ganz persönlichen Wünschen zurückzufinden mag schön klingen und vielleicht sogar eine heilende Wirkung haben, aber in der Realität sah das ganz anders aus. 
Denn dort war nur ein kleines in die Jahre gekommenes Haus, voller verdrängten Erinnerungen an brisante Diskussionen, dem Gefühl des Nicht – Angekommenseins und dem Fluchtwunsch. Und zwischen all dem stand er. 
Und das alles nur, wegen einem Mädchen. 

Gott, er hatte nie gedacht, dass er einmal so weich werden würde.
Aber nun stand er hier, auf einer kleinen Veranda, wie sie im Buche stand und sah auf die abgeblätterte Fassade seines Elternhauses. 
Es war, als ob die Zeit nichts verändert hatte. Die Gefühle, die Fassade, alles war gleich. Er fühlte sich wieder wie der vierzehnjährige Junge, der sich nach Hause schlich, im Gepäck eine fünf in Mathe. 
Niall hatte gedacht, dass diese Zeiten hinter ihm langen, aber die Zeit nahm anscheinend nicht alles. Sie konnte Gras über eine Angelegenheit wachsen lassen, sie wie ein Verband verdecken, aber wenn er wieder abgenommen wurde, hatte die Wunde sich nur unwesentlich verändert. Es gab einfach Dinge, die sich nie ändern würde. 

Seufzend wanderten seine Finger immer wieder über den eingerosteten Klingelknopf ohne ihn jemals zu betätigen. Und immer wieder hasste er sich für seine Feigheit. 
Komm schon, drängte er sich selbst, klingele einfach, mehr nicht. Aber bis jetzt hatten seine Bemühungen noch nicht den gewünschten Effekt gehabt. Er stand schließlich immer noch vor einer geschlossenen Tür. 
Allein mit seinen Gedanken und Ängsten.
Wenn er könnte, würde er einfach wieder zurückfahren, aber Niall wusste nur zu gut, das Weglaufen keine Lösung war. 
Er hasste Louis zwar für seinen Anfall an Verantwortungsbewusstsein, aber vielleicht hatte er recht. 
Niall musste sich über ein paar Dinge klar werden und versuchen einen klaren Kopf zu bekommen. 
Aber das ausgerechnet an einem Ort, an dem seine Gedanken nicht unsteter sein konnten? Anscheinend schon. Zehn Sekunden noch, schloss er mit sich selbst einen Deal. 

Zehn Sekunden, um einmal ruhig ausatmen zu können und sich gegen das zu wappnen, was sich hinter dieser Tür abspielen könnte.
10, begann er zu zählen. 9…8...7...6...5...vielleicht sollte er doch noch ein wenig warten.
Nein, er würde es jetzt durchziehen, ohne jeden Zweifel…4…3…2…1…
Blitzschnell drückte er seinen Finger auf das kalte Metall und klingelte einmal…zweimal…dann ließ er von der Klingel ab und atmetete tief ein. 
Es dauerte keine zwei Minuten bis die Tür geöffnet wurde und eine kleine füllige Frau mit herzförmigen Gesicht und einem fassungslosen Gesichtsausdruck zu ihm herauf sah.
Als seine Mutter Niall erkannte bogen sich ihre Mundwinkel nach oben und Lachfältchen bildeten sich darum. 

„Niall?“, murmelte sie verwundert und musterte ihn mit ihren trüben grauen Augen.

Sie hätte ihm jetzt eine Menge Vorwürfe machen können. Angefangen bei: Warum hast du dich in der letzten Zeit nicht gemeldet? – bis hin zu: Warum musst du deiner Mutter so einen Schrecken einjagen. 
Aber stattdessen sagte sie gar nichts und bereitete ihre Arme aus. 

„Oh Niall“, murmelte sie, als er ihre Umarmung erstaunt erwiderte. „Komm doch rein.“ 

Er folgte ihr durch den schmalen Flur, in dem noch immer der gleiche Teppich lag, denn Niall als Jugendlicher so grässlich altbacken empfunden hatte. 
Vorbei an der Treppe mit den knatschenden Treppenstufen, die ihm nach langen Nächten, in denen er ohne Erlaubnis seiner Eltern unterwegs gewesen war, schon so manches Mal zum Verhängnis wurden. 
Bis hin ins Wohnzimmer mit dem weißen Spitzentuch mit den  bunten Verzierungen, das immer noch auf dem Wohnzimmertisch lag. Wie oft hatte er sich gewünscht, es einfach vom Tisch zu reißen samt all den Gegenständen darauf? Er wusste es nicht mehr. 

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