~ Sechsundvierzig ~

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„Noah, mach dir keine Sorgen, ich komme gerne. Wirklich, kein Problem. Ich verstehe das vollkommen…“, hörte er Ali beruhigend sagen. 

„Nein, nein. Ist in Ordnung. Ich denke mir schon etwas aus.“ Dann war es wieder für einige Zeit still.

Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er die Zeit nutzte, um sich der Tür zum Proberaum so weit zu nähern, dass er sein Ohr ohne Probleme auf das kühle Holz legen konnte. 
Vor sich sah er Ali, immer wieder heftig nickend, während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu denken und eine Lösung für das Problem zu finden, egal welches.
Soweit er es jetzt mitbekommen hatte, ging es um ihren Gitarrenlehrer Noah und ein nicht weiter definierbares Problem. 
Nicht das ihm dieses Wissen irgendwie geholfen hatte, er war so ahnungslos wie eh und je und er belauschte sie. 
Nicht unbedingt eine sehr lobenswerte Tat, vor allem, wenn man bedachte, wie schnell sie ihn erwischen konnte und wie wütend sie dann auf ihn sein würde. Obwohl Wut, so schien es zumindest, das einzige Gefühl war, was sie ihm entgegenbringen konnte. 
Ja, und er wusste auch, dass er zu neunzig Prozent schuld an dieser Tatsache war. Aber die anderen zehn Prozent hatte sie definitiv verbockt. Sie und vielleicht die Jungs inklusive Ava, weil sie sie drängten und Geheimnisse vor ihr hatten.
Im Gegensatz zu ihnen, war Niall Ali gegenüber so etwas wie ein offenes Buch.  

Er schüttelte wütend den Kopf. Seine Gedanken hatten ihn die ganze letzte Nacht nicht schlafen lassen, es war, als ob ein Tsunami in seinem Kopf wüten würde.
Immer wieder trafen ihn dieselben Vorwürfe und Zweifel, ob er richtig gehandelt hatte. Ob es nötig gewesen war, Ali so zu demütigen.
Obwohl Demütigung auch ein sehr subjektiver Begriff war. Für Ali grenzte es beinahe schon an Demütigung, wenn man sie einmal schief ansah.
Niall hatte gestern keine zufriedenstellende Antwort auf seine Fragen finden können, deshalb hatte er sich entschlossen den heutigen Tag, beziehungsweise Alis Verhalten ihm gegenüber, abzuwarten und dann zu entscheiden. 

Nun drückte er sein Ohr wirklich an die Tür, weil es still im Raum geworden war. Wie schlecht er sich dabei fühlte, musste er wohl nicht in Worte fassen. 
Vernehmen konnte er aber trotzdem nichts. Schnell legte Niall die Hand auf die Klinke und drückte sie runter, bevor er es sich anders überlegen konnte. 
Wenige Sekunden später stand er auch schon im Raum und wurde von einer erschreckten Ali empfangen, die ihn mit offenem Mund ansah. 
Wäre diese Situation nicht so komplex gewesen, wäre jetzt ohne jeden Zweifel, ein Lächeln über das Gesicht gehuscht, denn auch wenn Ali sich für diese leicht naive Geste schämte, Niall amüsierte sie. 
Es machte sie sympathischer. So kannte er sie. Falls er sie überhaupt kannte.
Er sah an ihr herab, und musste amüsiert feststellen, dass sie tatsächlich eine graue Hose mit Löchern, abgelaufene Sneakers und ein weißes Rippshirt trug.
Das einzige, was das Gesamtbild etwas unharmonisch wirken ließ, waren ihre Haare, die sie in einen Zopf gesperrt hatte. Allerdings fielen ein paar störrische dunkelblonde Strähne heraus, die ihr in das Gesicht fielen.
Auf ihrem Gesicht bildeten sich erneut die altbekannten, aber sonst besser versteckten Sorgenfalten, die sie reifer aussehen ließen und sie hatte die Hände in die Hüfte gestellt.
Ihre grünen Augen funkelten, aber schienen nicht fokussiert, sondern wie immer, irgendwo anders zu sein.
Sein forschender Blick schien ihr aber nicht entgangen zu sein, denn auch sie musterte ihn nun kurz, fasste sich aber sofort, als sie seinem Blick begegnete, als ob ihr wieder einfiel, dass sie gerade ein Telefongespräch führte. 

„Äh… Ich komme dann morgen Vormittag vorbei. Ist das in Ordnung?“, sagte sie gerade, während ihr Blick immer noch hin und wieder zu ihm schweifte.

Niall schien sie etwas aus dem Konzept gebracht zu haben, denn es fiel ihr deutlich schwerer, Sätze zu bilden, die auch einen Sinn ergaben. Er lächelte. 

„Ich schaffe das schon, Noah.“ 

Wieder eine Beteuerung, ein Versprechen, dass sie gab. Half sie schon wieder jemandem aus der Klemme, so wie wahrscheinlich gestern Ornella? 
Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie sich wirklich mit ihr unterhalten hatte.
Sonst sprang sie schon im Karree, wenn er sie kurz kritisierte und das auf vollkommen objektiver Ebene, aber ihre Freundin konnte sie so viel verletzen wie sie wollte und wurde dafür auch noch belohnt. Was war mit ihr los?
Vielleicht hatte Harry auch nicht richtig geguckt, versuchte Niall sich zu beruhigen. Die meisten Mädchen, die wie Ornella waren, sahen alle gleich aus. Dummes Lächeln, kein Ausdruck in den Augen und ein Selbstbewusstsein, das von hier bis zu den Fidschis reichte. Vielleicht war es ja eine andere Freundin gewesen. Aber selbst wenn, Mädchen in diesem Alter waren alle gleich. Oberflächlich. Arrogant. Und verletzend.

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