~ Neun ~

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Als Aleyna nach Hause kam, leuchtete nur noch im Wohnzimmer das Licht. 
Das konnte nur eines bedeuteten: Ihre Mutter hatte auf sie gewartet. 
Sofort fühlte sie wieder diesen Klumpen in ihrem Herz, der sich immer wieder bemerkbar machte, sobald sie ihr zu Hause betrat. 
Seufzend schloss sie die Wohnungstür auf und trat ein. Sie streifte die Schuhe ab, hing ihre Jacke ordnungsgemäß auf den Hacken der Garderobe und ging dann auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer. 

Dort saß schon ihre Mutter kerzengerade auf dem beigefarbenen Sofa, einen kalten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht, die Hände auf dem Schoß gefaltet, und musterte sie von oben bis unten, als Al im Türrahmen auftauchte. Sie sah unglaublich müde aus.

Ihre Mutter hatte den ganzen Tag über gearbeitet, und war deswegen gestresst, doch ihre Arbeit schien seit langer Zeit das Einzige zu sein, dass sie glücklich machte. 

Ihr zu sagen, dass sie es langsamer angehen sollte, würde ihr nur wieder das Herz brechen, dass wusste Aleyna.
Nicht weil, ihre Arbeit ihre Leidenschaft war, sondern, weil sie der einzige Ort war, an dem sie vergessen konnte. Es war eine Welt, in der nur die Zahlen auf ihrem Bildschirm zählten und nichts weiter. Hier durfte sie vergessen und verdrängen. Zu Hause war ihr das nicht gestattet.

Dort warteten ihre Tochter, der ständige Fortschritt und gleichzeitig die Erinnerung an vergangene Zeiten. 

„Du wolltest doch schon eigentlich vor einer Stunde zu Hause sein?“, fragte sie Aleyna eine Spur vorwurfsvoll.

Sie konnte jetzt die Besorgnis in ihrem Gesicht erkennen, die sich von einem Moment auf den anderen herangeschlichen hat und sie vollkommen überforderte.

Es war nicht fair von Aleyna gewesen, ihre Nerven derart zu strapazieren. Andererseits machte die Besorgnis ihrer Mutter sie verrückt. Besorgnis war, neben ihrer ständigen Trauer das einzige Gefühl, zudem sie noch fähig war, es zu empfinden.
Sie war entweder besorgt oder todtraurig, es schien keinen Zwischenzustand bei ihr zu geben. Alles schien so endgültig Schwarz oder Weiß, Ja oder Nein. 

„Ja, ich weiß, aber die Vorstellung hat länger gedauert, du weißt ja, in der Oper kann man nie wissen, wie lang der Applaus sich hinzieht“, plauderte Aleyna munter drauf los, den ausdruckslosen Gesichtsausdruck ihrer Mutter ignorierend. 

Die Lüge glitt ihr mittlerweile glatt über die Lippen, sie hatte es sich angewöhnt, ihre Mutter die ein oder anderen Sache vorzuenthalten. Sie würde es sowieso nicht verstehen. 
Heute hatte Aleyna ihr erzählt, dass sie zusammen mit Ornella in das Ballett „Ein Sommernachtstraum“ gingen. Sie hatte es bereits schon einmal in der Schule gesehen und da sie es in der Schule ausführlich analysiert hatten, konnte sie ihr mühelos jedes Detail erzählen. 
Nicht, dass es ihre Mutter interessieren würde, welcher Komponist für die Musik zuständig war, oder wer das Bühnenbild inszeniert hatte, aber sie erwartete, etwas von ihr zu hören.

Also erzählte ihr Aleyna die wichtigsten Dinge, damit sie ihre Verpflichtungen als Tochter erfüllt hatte und ihre Mutter, sich nicht schlecht fühlen musste. 
Aber im Grunde wussten sie beide, dass ihre Gespräche nichts zu bedeuten hatten.

Sie redeten, um die Stille irgendwie mit Worten zu füllen. 
Um der Stille nicht die Chance zu geben, ihr schlechtes Gewissen zu schüren, weil sie sich nicht miteinander unterhalten.
Denn die Stille würde ihnen leidglich die Gewissheit geben, die sie schon lange hatten: 
Sie hatten sich im Grunde nichts mehr zu sagen.

Allerdings hatte ihre Mutter zumindest nichts gegen Besuche in der Oper, weil vorwiegend klassische Musik gespielt wurde. Wenn sie überhaupt Musik hörte, dann war es klassische Musik. Aber auch das nur noch selten. Es fiel ihr immer noch schwer, Musik zu hören. 
Es war zu schmerzhaft.

„Und wie war es?“, fragte ihre Mutter dann und versuchte interessiert zu wirken. Geschäftig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und warf einen Blick aus dem Fenster, damit die negativen Gefühle, die sich erneut in ihr auszubreiten schienen, nicht überrannten.

„Gut - eigentlich so wie immer“, sie lächelte schwach. Leeres Gerede.

„Die Musik war schön.“ 

In Gedanken verdrehte Aleyna die Augen. Schön? Das war doch kein Ausdruck, um Musik zu beschreiben. Musik war nicht einfach nur schön. 
Zumindest wirklich gute Musik war es nicht. Musik, die die Menschen dazu brachte, sich in ihrer Welt zu verlieren und für einen Moment zu schweben.

Gute Musik war großartig oder wunderbar, aber nicht schön. Aber, Alyena wusste, dass ihre Mutter es merkwürdig gefunden hätte, wenn sie ein anderes Wort als, schön, benutzt hätte.

Ein Wort wie, schön, verlangte nach keiner großen Erklärung. Es war ein wörtliches Achselzucken, etwas, das keine explizite Reaktion brauchte. 
Schön war das perfekte Wort, um ein Gespräch kurz und so oberflächlich wie nötig zu halten. Ganz genau so wie es ihre Mutter wollte.
Hätte sie aber gesagt, dass die Musik großartig war, hätte ihre Mutter nach dem Grund für dieses übersteigerte Lob, fragen müssen. Und damit hätten sie ein langes Gespräch über die Stilmittel der Musik begonnen, dass sie eigentlich gar nicht führen wollten.

Schön war unkompliziert.
Großartig schon.

Und eine komplizierte Beziehung wie die von Alyena und ihrer Mutter, verlangte geradezu nach einem unkomplizierten Gesprächsvokabular.

„Dann wirst du Noah sicherlich morgen eine Menge erzählen können“, entgegnete ihre Mutter ihr versteift und biss sich auf die Lippe, um Fassung zu ringen. 

Al lächelte, als ihre Mutter Noah erwähnt und vergaß, sich über ihre verzweifelte Reaktion, zu ärgern.
Noah war ihr Gitarrenlehrer so lange sie denken konnte, und einer der besten Menschen, die Aleyna kannte. 
Er war so anders als ihre Mutter. Er liebte die klassische Musik und hatte seine Jugend in den Bibliotheken seiner Heimatstadt verbracht, auf der Suche nach Inspiration. 

Doch er war auch offen für alles andere. Er liebte Herausforderungen und für seine Schüler tat er alles.
Noah gehörte zu den wenigen Menschen, bei denen Aleyna sich wirklich wohlfühlte und der schätzte, was sie tat. Und das ausnahmslos.
Auch nur mit ihm konnte sie Diskussionen über großartige Musik führen. Auch wenn Noah ihr immer mehr als überlegen war, gab er ihr das Gefühl, gut zu sein. 

„Ja, ich denke schon“, entgegnete Aleyna ihr. 

Danach schwiegen sie betreten. Aleyna beobachtete wie der Blick ihrer Mutter in die Ferne schweifte - sie hielt es nie wirklich lange in der Realität aus, dafür war sie ihr viel zu schmerzlich. Es war noch nicht einmal so, dass sie ein besonders verträumter Mensch war - sie war immer sehr realitätsnah und praktisch veranlagt gewesen- , doch Al und ihre Familie im Allgemeinen, erinnerten sie zu sehr an das Vergangene. 

Die Vergangenheit würde ihre Mutter, so gern sie es auch wollte, wohl niemals verdrängen können. Trotzdem mied sie alles und jeden, der sie noch zusätzlich daran erinnerte.

Aleyna hatte sich schon oft gewünscht diese Starre in ihr, irgendwie lösen zu können, doch es war ihr nie gelungen. Nun bemerkte sie, nach gerade einmal paar Minuten Zusammensein, dass ihre Mutter ihr wieder entglitt, sie geradezu verließ.
 
Wenn auch nicht physisch, denn sie war immer noch hier, bei ihr. Aber psychisch hatte sie sie einfach verlassen. Sie hatte ihre Tochter verlassen, um in einer anderen, fiktiven Welt, die Realität zu verdrängen. Aleyna wollte die Realität mit ihr vergessen.  
Und das war das Schlimmste an der ständigen Abwesenheit ihrer Mutter. 
Denn, obwohl sie scheinbar ungewollt der Realität entglitt, obwohl sie versuchte, ihr Leben pragmatisch und realistisch zu gestalten, wusste Aleyna, dass ihre Mutter sich im Grunde wünschte, sie endlich vergessen zu können. 

Seufzend und ernüchternd zugleich ging Aleyna zu ihrer Mutter, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wünschte ihr schnell eine gute Nacht. Ihre gemeinsame Zeit war vorbei.
Ihre Mutter erwiderte ihre Berührung flüchtig, und wandte sich dann von ihr ab.

Als Aleyna sich schon auf den Weg nach oben machen wollte, sagte sie schließlich noch: „Morgen um 16 Uhr Gitarre in der Musikschule, oder?“, Aleyna nickte.

Zumindest das wollte sie nicht vergessen.

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Ach ja 😢

Was denkt ihr ist passiert? Warum zieht die Mutter sich aus der Realität zurück?

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